Unglaublicher „Bluff“ der Ukraine: Wie Putins Kriegstaktik nun vollends zerfällt
Es ist der berühmte Kampf David gegen Goliath: auf der einen Seite das große, militärisch maximal aufgerüstete Russland mit einer riesigen Armee. Auf der anderen Seite die viel kleinere Ukraine, die auf dem Papier dem Feind in allen Punkten unterlegen ist. Doch die letzten Tage haben eindrucksvoll gezeigt: Russland ist verwundbar – wenn man es richtig anstellt. Die Ukraine hat es richtig angestellt. Experten bezeichnen das, was Kiew in den vergangenen Wochen ausbaldowert und umgesetzt hat, als „eine der besten Gegenoffensiven seit dem Zweiten Weltkrieg“. Wladimir Putins bisherige Kriegstaktik dürfte damit gestorben sein.
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Es ist der berühmte Kampf David gegen Goliath: auf der einen Seite das große, militärisch maximal aufgerüstete Russland mit einer riesigen Armee. Auf der anderen Seite die viel kleinere Ukraine, die auf dem Papier dem Feind in allen Punkten unterlegen ist. Doch die letzten Tage haben eindrucksvoll gezeigt: Russland ist verwundbar – wenn man es richtig anstellt. Die Ukraine hat es richtig angestellt. Experten bezeichnen das, was Kiew in den vergangenen Wochen ausbaldowert und umgesetzt hat, als „eine der besten Gegenoffensiven seit dem Zweiten Weltkrieg“. Wladimir Putins bisherige Kriegstaktik dürfte damit gestorben sein.
Es dauerte nur wenige Tage und die zweitmächtigste Streitmacht der Welt galt als besiegt – zumindest fürs Erste und zumindest im Nordosten der Ukraine. In einer strategischen Meisterleistung schlugen die Verteidiger die Besatzer in die Flucht – und zwar derart überraschend und deutlich, dass die Russen kopf- und planlos einen völlig chaotischen Rückzug antraten. Hektisch flohen sie aus Balaklija, Isjum und anderen Orte in der Gegend, und ließen dabei Ausrüstung und Gerätschaften zurück.
Ukrainischer Erfolg im Nordosten: „eine der besten Gegenoffensiven seit dem Zweiten Weltkrieg“
Das, was der Ukraine Anfang September in dem Gebiet rund um Charkiw gelang, bezeichnet die ukrainische Zeitung „Kyiv Independent“ als „Wunder am Fluss Okil“, die „New York Times (NYT)“ sprach von einem „großen, klaren Sieg“, der „Spiegel“ von einem „Überraschungserfolg“, der „fast unglaublich wirkt“.
In rund zwei Wochen drangen die Ukrainer bis zu 70 Kilometer tief in von Russland besetztes Gebiet vor, eroberten laut dem US-„Institute for the Study of War (ISW)“ rund 9000 Quadratkilometer Land zurück – ein Gebiet rund zwölfmal so groß wie Hamburg. Er habe „eine der besten Gegenoffensiven seit dem Zweiten Weltkrieg und eine der größten Niederlagen der russischen Streitkräfte seit dem Zweiten Weltkrieg“ gesehen, sagte Ed Arnold, ein weltweit führender Militärexperte, zum „Spiegel“.
So gelang den Ukrainern eine „strategische Meisterleistung“
Wie haben die Ukrainer das geschafft? Sie nutzten Schwachstellen der Russen geschickt aus, setzten die eigenen Streitkräfte clever ein, profitierten von weitergereichten Erkenntnissen ausländischer Geheimdienste und von westlichem Kriegsgerät. Heraus kam eine „strategische Meisterleistung, die Militärwissenschaftler noch jahrzehntelang beschäftigen wird“, wie der Armeeexperte Phillips O’Brien jüngst analysierte.
Der Plan: ein, wie der „Spiegel“ es nennt, „großer Bluff“. Monatelang festigten Präsident Wolodymyr Selenskyj und seine Berater die Erzählung, man wolle so schnell wie möglich und koste es, was es wolle, die politisch und strategisch wichtige Stadt Cherson zurückerobern, ebenso den restlichen, von Russland besetzten Süden und langfristig auch den Donbass im Osten. Was folgte, war eine groß angelegte und lautstark öffentlich kommunizierte Offensive der Ukraine im Süden des Landes.
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Russland gruppierte daraufhin seine Truppen um, zog aus dem Nordosten massiv Soldaten und Ausrüstung ab und schickte sie in den Süden und ins Donbass-Gebiet. Der entscheidende Moment für die Ukraine: Sie sandte ihrerseits ihre besten Truppen ins Gebiet um Charkiw, eroberte die Region zurück – und dürfte in den kommenden Tagen weiter vorrücken. Auch, da die russischen Streitkräfte kaum noch Widerstand leisten (können). Laut dem ISW führen die Russen im Gebiet Charkiw nur noch „erfolglose“ und „bedeutungslose Gegenoffensiven“ durch.
Eine Niederlage der Russen auch im Süden könnte nur noch eine Frage der Zeit sein
Dabei ist die Offensive im Süden keineswegs nur ein reines Ablenkungsmanöver: Beobachter rechnen damit, dass durch die krasse Niederlage im Nordosten die ohnehin schon schwache Kampfmoral der Russen weiter schwinden dürfte. Ein Rückzug auch aus dem Süden könnte daher nur eine Frage der Zeit sein.
Vor allem, da sich Wladimir Putin weiterhin weigert, den Angriff auf die Ukraine als „Krieg“ zu bezeichnen. Immer noch spricht er von einer „Spezialoperation“. Der Unterschied ist relevant, denn: Im Kriegsfall könnte der Präsident eine Generalmobilmachung ausrufen und so deutlich mehr Soldaten und Ausrüstung in die Ukraine beordern. Beides geht dem Kremlchef zunehmend aus: Berichten zufolge sind bereits mehrere Zehntausend russische Soldaten in der Ukraine gefallen, hinzu kommen zahlreiche Deserteure. Zudem gelingt es den Ukrainern auch dank westlicher Geheimdienst-Infos immer besser, russische Ausrüstung und Nachschub-Wege zu zerstören.
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Bislang scheute Putin diesen Schritt, denn er würde einen Gesichtsverlust bedeuten: Russlands Präsident redet den Angriffskrieg kontinuierlich klein, die Resultate der „Spezialoperation“ dagegen groß. In der Ukraine laufe alles nach Plan, betonte er immer wieder, diese Lesart wird von den Staatsmedien gebetsmühlenartig wiederholt.
Putins Autorität bekommt Risse
Doch einige Militäranalysten glauben, dass Putin bald keine andere Wahl hat, als eine deutliche Eskalation des Konflikts anzuordnen. „Bis Ende dieses Jahres wird der Kreml fast seine gesamte Artilleriemunition, fast alle seine gepanzerten Fahrzeuge, Kampfpanzer und den größten Teil seiner Bodentruppen verlieren“, sagte der Armee-Experte Pavel Luzin, zur „Financial Times“. „Wie kann man den Krieg ohne Artillerie und Truppen fortsetzen?“
Hinzukommt, dass Putins Autorität langsam Risse bekommt: Immer mehr kritische Stimmen auch innerhalb Russlands äußern Zweifel am Kremlchef. „Es gibt einen Punkt, an dem sowohl Liberale als auch Kriegsbefürworter das gleiche Ziel haben können. Dieses Ziel kann sein, dass Putin zurücktritt“, zitierte etwa der US-Sender CNN Dmitry Palyuga, einen Politiker in St. Petersburg, Putins Heimatstadt. Palyuga fordert öffentlich ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten. Ähnlich äußerten sich zuvor bereits andere Lokalpolitiker.
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Beobachter sind sich sicher: Sollte die Ukraine weiter derart bemerkenswerte Geländegewinne erzielen, wird die Luft für Putin weiter dünner. Und Prognosen, wonach Kiew den Krieg tatsächlich gewinnen könnte, werden wahrscheinlicher. Schon jetzt ist klar: Putins bisherige Kriegstaktik, zunächst den Donbass, dann den Süden zu erobern, zu besetzen und von dort aus im Handumdrehen die komplette Ukraine einzunehmen, ist gescheitert.