Neuer Holodomor? Putin legt offenbar grausame Stalin-Taktik neu auf
Bomben, Raketen, Vergewaltigung: Im Krieg gegen die Ukraine nutzt Russlands Präsident Putin die grausamsten Waffen. Darunter ist wohl auch eine, die nicht sofort sichtbar ist – und die nicht zum ersten Mal von Russland gegen die Ukraine eingesetzt wird.
Bomben, Raketen, Vergewaltigungen: Im Krieg gegen die Ukraine setzt Russlands Präsident Putin die grausamsten Waffen ein. Darunter ist wohl auch eine, die nicht sofort sichtbar ist – die Tötung durch Hunger. Es wäre nicht das erste Mal, dass Russland versucht, mit einem sogenannten Holodomor das Nachbarland zu brechen.
„Tote und Sterbende konnte man zu jeder Tageszeit und an allen Enden der Stadt sehen. Es war grauenhaft. Männer, Frauen und Kinder lagen am Strassenrand mit geschwollenen Händen und Füssen und bis zum Skelett abgemagerten Körpern. Weinend und klagend baten sie um ein Stück Brot“: Was der deutsche Techniker Alfred Kempin hier beschreibt, hat sich 1932 und 1933 in der Ostukraine abgespielt, genauer gesagt in Charkiw. Kempin war im Auftrag seiner Düsseldorfer Firma dort, die „Neue Zürcher Zeitung“ („NZZ“) zitiert aus seinen Aufzeichnungen.

Holodomor: Gezielt herbeigeführte Hungersnot, um die Ukraine zu vernichten
Darin heißt es weiter: „Bei Einbruch der Dämmerung und in den Nächten wurden in grossen Lastwagen alle Toten zusammengesucht. Sie alle zu beerdigen, war unmöglich. In grossen Massengräbern, an Schluchten und Abhängen wurden Autos ihrer traurigen Last entledigt.“
Kempin wurde bei seinem Besuch in Charkiw Zeuge des Holodomor, einer bewusst herbeigeführten Hungersnot in der Ukraine, bei der Schätzungen zufolge mindestens vier Millionen Menschen ums Leben kamen. Verantwortlich dafür war der sowjetische Diktator Josef Stalin, der das Aushungern der ukrainischen Bevölkerung gezielt angeordnet hatte.
Die Ukraine ist die „Kornkammer Europas“
Das Ganze erscheint umso perfider, weil die Ukraine mit ihren riesigen Weizenfeldern damals wie heute als „Kornkammer Europas“ galt. Doch von diesem landwirtschaftlichen Reichtum bekam das Land in den Jahren des Holodomor nichts ab. Stalin verfügte, dass die ukrainischen Bauern ihre komplette Ernte abgeben mussten. Sie wurde von sogenannten „Roten Zügen“ abgeholt und nach Russland gebracht oder ins Ausland exportiert. „Wer versuchte, etwas Essen zu bekommen oder zu verstecken, wurde festgenommen, ermordet oder in Gulags deportiert“, erklärt die deutsch-bosnische Journalistin und Genozid-Expertin Melina Borčak auf Twitter.

Aber nicht nur wurden die Ernten abtransportiert: Russland verhinderte auch, dass die Bauern Saatgut für eine Neuansaat bekamen oder Futter, um ihre Tiere zu versorgen. Dörfer, in denen der Widerstand dagegen groß war, wurden komplett von jeglichen Warenlieferungen abgeschnitten. Und: Stalin verfügte, dass die Ukrainer ihre Wohnorte nicht mehr verlassen durften, etwa um sich woanders mit Nahrungsmitteln zu versorgen.
„Sogar Bahnkarten kaufen war verboten“, erklärt Borčak. Später ließ Stalin sogar die Landesgrenzen schließen, sodass Hungerflüchtlinge nicht einmal ins Ausland fliehen konnten. Je größer das Elend der Ukrainer wurde, desto unerbittlicher reagierte Moskau.
Holodomor in der Ukraine: Mancherorts gab es Kannibalismus
„Als die Wochen vergingen, erregte es schon Verdacht, überhaupt am Leben zu sein. Wenn Familien lebten, besaßen sie Lebensmittel“, schreibt die US-amerikanische Historikern und Holodomor-Forscherin Anne Applebaum. Der Hunger trieb die Menschen in den Wahnsinn. Bauern schlachteten ihre klapprig gewordenen Nutztiere, um irgendetwas zu Essen zu haben. Mütter versuchten aus Gras und Blättern Suppe zu kochen. Nachbarn wurden zu Konkurrenten um alles halbwegs Essbare. Mancherorts gab es sogar Kannibalismus. Die Menschen in der Ukraine „starben den qualvollen, langsamen Hungertod“, schreibt Borčak.
Stellt euch vor, plötzlich diskutieren Medien, Politik +Menschen weltweit über DE -aber so, als hätte es Berliner Mauer, Teilung, NS-Zeit nie gegeben. Ähnlich gehts mir, wenn ich sehe, dass bei Ukraine Holodomor nicht erwähnt wird. Riesige Wissenslücke muss gefüllt werden,THREAD: pic.twitter.com/USv2gjTI5t
— Melina Borčak (@MelinaBorcak) May 4, 2022
Einige ältere Ukrainer haben den Holodomor in den 30er Jahren selbst mit- und überlebt. Für sie scheint es nun eine Wiederholung des Horrors von damals zu geben: Vergangene Woche teilte Vizeagrarminister Taras Wyssozkyj mit, dass Russland aus den besetzten Gebieten in der Ukraine bislang schon mindestens 400.000 Tonnen Getreide abtransportieren ließ. Das sei etwa ein Drittel der Getreidevorräte in den Regionen Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk, so Wyssozkyj im ukrainischen Fernsehen. Werde der Getreidebestand weiter reduziert, drohe in diesen Gebieten eine Hungersnot, so der Minister.
Das befürchtet auch Präsident Wolodymyr Selenskyj: Russland tue „alles, um unser landwirtschaftliches Potenzial zu ruinieren“, sagte er jüngst.

Das Vorgehen Moskaus sorgt auch hierzulande für Entsetzen: Präsident Putin bediene sich skrupellos an den Weizenreserven der Ukraine, sagte Bundesagrarminister Cem Özdemir am Wochenende und verurteilte die gezielten Attacken Moskaus gegen die Landwirtschaft im Nachbarland scharf. Ukrainische Landwirte müssten Reserven in besetzten Gebieten zwangsweise zu lächerlichen Preisen verkaufen – oder „Putins Soldateska“ nehme sich die Vorräte einfach. „Dafür gibt es im Rechtsstaat übrigens drei Wörter: Erpressung, Diebstahl und Raub.“
Die Strategie hinter Stalins Holodomor
Warum aber tut ein Staatschef (s)einem Volk so etwas an? Im Falle von Stalin war der Holodomor der Versuch, die Ukraine als Nation zu vernichten, resümiert Applebaum. Der Sowjetdiktator trieb während seiner Herrschaft gnadenlos die Industrialisierung zu Lasten der Landwirtschaft voran – und war gleichzeitig bestrebt, nationalistische Tendenzen abseits des Russischen auszumerzen. Deswegen ließ er schon vor dem Holodomor ukrainische Intellektuelle, Lehrer, Künstler, Schriftsteller und Geistliche nach Sibirien deportieren. Die verbliebenen Ukrainer versuchte er mittels Hunger gefügig zu machen – mit millionenfach tödlichen Folgen.

International gab es wenig bis gar keine Berichterstattung darüber – auch im Nachgang nicht. Die Erinnerung an und Aufarbeitung des Holodomor wurde von Moskau systematisch unterdrückt. Erst nach der Unabhängigkeit der Ukraine änderte sich das. Über den Holodomor definierte sich die junge Nation vor allem in Abgrenzung zu Russland. Unter Präsident Wiktor Juschtschenko wurde die Hungersnot 2006 zum Genozid am ukrainischen Volk erklärt und seine Leugnung unter Strafe gestellt.
Seither versucht die Ukraine, diese Anerkennung auch international durchzusetzen. Einige Länder – zuletzt vor wenigen Tagen Tschechien – werten den Holodomor bereits als Völkermord, Deutschland jedoch nicht.
Journalistin Borčak warnt: Die Wissenslücke in Sachen Holodomor sei auf der ganzen Welt immer noch riesig. Doch man könne nicht über den Krieg in der Ukraine sprechen und das Thema Holodomor ausklammern, so Borčak. Das sei wie über Deutschland zu sprechen, „als hätte es Berliner Mauer, Teilung, NS-Zeit nie gegeben.“
Neuer Holodomor? Putin legt offenbar grausame Stalin-Taktik neu auf
Dass Putin eine ähnliche Strategie wie Stalin verfolgt und den Holodomor nun neu auflegt, halten viele Beobachter für plausibel: „Die einzige Interpretation ist, dass [die Russen] Hunger erzeugen und diese Methode als Aggressionsmethode einsetzen wollen“, sagte EU-Agrarkommissar Janusz Wojciechowski schon Ende März. „Es ist eine ähnliche Methode, die in den 1930er Jahren vom sowjetischen Regime gegen das ukrainische Volk angewandt wurde.“
Lesen Sie auch: Irre These: Insider erklären, was wirklich hinter Putins Angriff stecken könnte
Ebenfalls Ende März schrieb der damalige ukrainische Landwirtschaftsminister Roman Leschtschenko an die EU und bat „dringend“ um Hilfe in Form von Saatgut für den Anbau etwa von Kohl, Rote Beete, Karotten und Tomaten. Das US-Magazin „Politico“ zitierte aus dem Brief: Es sei wichtig, „eine Hungersnot in der Ukraine zu verhindern, die Russland zum zweiten Mal versucht, der Ukraine zuzufügen“, so Leschtschenko.
Vergangene Woche unterstrich auch Lyudmyla Denisova, Ombudsfrau für Menschenrechte der Ukraine, dass russische Truppen „vorsätzlich Maßnahmen anwenden“, um „den Holodomor in der Ukraine zu verursachen.“

Das Perfide: Die Ukraine dürfte nicht nur während des Kriegs unter Putins grausamer Strategie leiden. Experten schätzen, dass es Jahre oder sogar Jahrzehnte dauern könnte, bis sich der ukrainische Agrarsektor vollständig vom russischen Angriff erholt hat. Vor allem das Ackerland ist stellenweise auf unabsehbare Zeit unbrauchbar geworden: Putins Truppen haben es zerstört, vermint, verseucht. Vielerorts blieben Panzer oder Militärlaster dort stecken, Raketen schlugen ein – einige explodierten nicht und stecken dort als Blindgänger fest. Das Land braucht Schätzungen zufolge Milliarden an Wiederaufbauhilfe.
Auch, weil die Ukraine einer der wichtigsten Weizenexporteure der ganzen Welt ist, vor allem afrikanische Staaten sind auf Getreide aus der Ukraine angewiesen. Daher sei Putins Neuauflage des Holodomor nicht nur für die Ukraine existenzgefährdend, sagte Selenskyj vor einigen Tagen. „Sein Ziel ist es, eine Nahrungsmittelkrise zu provozieren – nicht nur in der Ukraine, sondern auf der ganzen Welt“.