Impfpflicht für alle: Experte erklärt, ob sie rechtlich überhaupt möglich ist
Eine Impfpflicht gegen das Coronavirus? Galt lange als Tabu. Doch die extrem hohe Zahl von Neuinfektionen, Rekord-Inzidenzen und Intensivstationen am Anschlag sorgen bei immer mehr Politikern und Experten für ein Umdenken. Plötzlich rückt eine Impfpflicht in greifbare Nähe – aus Angst, die Pandemie nicht in den Griff zu bekommen.
Ein Schritt, der rechtlich allerdings höchst umstritten ist. Wäre die Impfpflicht für alle überhaupt rechtlich möglich? Der Hamburger Verfassungsrechtler Ulrich Karpen hat eine klare Einschätzung. Und erklärt im MOPO-Gespräch, zu welchem Schluss die Verfassungsrichter aus seiner Sicht kommen müssten.
- Deutsch (Deutschland)
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Eine Impfpflicht gegen das Coronavirus? Galt lange als Tabu. Doch die extrem hohe Zahl von Neuinfektionen, Rekord-Inzidenzen und Intensivstationen am Anschlag sorgen bei immer mehr Politikern und Experten für ein Umdenken. Plötzlich rückt eine Impfpflicht in greifbare Nähe – aus Angst, die Pandemie nicht in den Griff zu bekommen.
Doch ist eine Impfpflicht überhaupt verfassungskonform? Der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Michael Theurer sieht das nicht so: „Wir halten sie für verfassungswidrig“, sagte er bei „Bild-TV“. Und auch der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei, ist skeptisch: Eine allgemeine Impfpflicht gegen das Coronavirus dürfte „wegen des schwerwiegenden Eingriffs in das Recht auf körperliche Unversehrtheit unter den derzeitigen Rahmenbedingungen unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig sein“, sagte er der „Welt“.
Verfassungsrechtler widerspricht Impfpflicht-Gegnern
Der Verfassungsrechtler Ulrich Karpen widerspricht diesen Positionen im Gespräch mit der MOPO: „Eine Impfpflicht ist meines Erachtens nicht verfassungswidrig. Die Situation hat sich so entwickelt, dass das Bundesverfassungsgericht wohl sagen wird, sie sei geeignet, erforderlich und auch verhältnismäßig. Wir haben noch immer eine Impfquote unter 80 Prozent. Es gibt immer noch zu viele, die sich keine großen Gedanken machen, dass man nicht nur sich selbst gefährdet, sondern auch andere.“
Ein Problem sieht er jedoch in der Durchführung: „Ich sehe große Schwierigkeiten in der Kontrolle. Wenn man schlecht kontrolliert, gerät das Modell eines Staates, der durchgreift, weil die Situation katastrophal ist, ins Wanken.“ Doch die Situation sei außer Kontrolle geraten – und gefährlich. Durchgreifen sei notwendig, so Karpen. „Der Schutz der Bevölkerung hat absoluten Vorrang.“
Doch spaltet eine Impfpflicht nicht die Gesellschaft? Der Verfassungsrechtler ist unbesorgt: „Selbstverständlich hat nicht jeder Verständnis dafür, aber ich meine, dass die Solidarität der Gesellschaft in Deutschland noch groß genug ist, um zu verstehen, dass in diesem Notfall alle zusammen halten müssen. Ich glaube, die Befürchtung einer Gesellschaftsspaltung ist verfrüht und falsch.“
Deutschland verzeichnet täglich negative Corona-Rekorde
Derzeit hat die vierte Corona-Welle Deutschland fest im Griff: Höchstwerte bei Neuinfektionen und Inzidenzen. Jeden Tag. Am Montag meldete das RKI bundesweit eine Inzidenz von 386,5 und 30.643 Neuinfektionen. In Deutschland sind bislang 56,5 Millionen Menschen doppelt geimpft (67,9 Prozent) – noch lange nicht genug, so die Experten.
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Etliche Krankenhäuser sind bereits am Anschlag: Nach Angaben der Landesärztekammer muss sich Sachsen auf eine Triage vorbereiten. Bedeutet: Mediziner müssen aufgrund knapper Ressourcen entscheiden, welchem Patienten sie zuerst helfen. Denn im Freistaat stünden nur noch wenige Betten auf Intensivstationen zur Verfügung, sagt der Präsident der Landesärztekammer, Erik Bodendieck, dem Sender NDR Info. Er geht davon aus, dass zwei Menschen in den nächsten Tagen um ein Bett „kämpfen müssen“, erklärt Bodendieck in einem „Deutschlandfunk“-Interview. Dann werde überlegt, wer die besseren Aussichten auf eine erfolgreiche Behandlung habe. Ungeimpfte hätten im Fall einer Beatmung, die bei akutem Lungenversagen eingesetzt wird, „eine sehr schlechte Überlebenschance“.
Immer mehr Politiker und Experten für eine Impfpflicht
In der angespannten Situation werden die Stimmen für eine Impfpflicht gegen das Coronavirus lauter. So zeigten sich zuletzt insbesondere Unionspolitiker als Befürworter – unter ihnen der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther (CDU), Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) und Bayerns Regierungschef Markus Söder. Laut CSU-Chef stehe die Parteispitze klar hinter der Forderung einer allgemeinen Impfpflicht. Es habe dafür große Zustimmung geben, sagte Söder am Montag nach einer Videoschalte des CSU-Vorstands in München. Er ist zudem überzeugt, dass eine Impfpflicht auf Dauer auch der Weg sei, gesellschaftlichen Frieden zu schaffen – wogegen eine partielle Impfpflicht Ungerechtigkeit schaffe.
Doch auch Hamburgs zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank (Grüne) bezieht im MOPO-Podcast Stellung: „Wir haben immer gesagt, die Impfung sei der Gamechanger. Dass zu viele diese Chance verstreichen lassen, will einfach nicht in meinen Kopf. Ich bin aber auch soweit, dass ich sage, dass wir eine Impfpflicht brauchen, wenn sich jetzt nicht substanziell mehr Menschen impfen lassen, die es auch könnten.“
Lothar Wieler, Chef des RKI, äußert sich hingegen skeptisch – lenkte aber zuletzt auch ein: Die Impfpflicht sei „ein Mittel, das wir alle nicht wollen“, sagte er am Sonntagabend im „Heute-Journal“ des ZDF. „Es gibt wirklich niemanden, der gerne eine Impfpflicht haben möchte. Viele, viele Studien gibt’s dazu, viele Wissenschaftler finden das keine gute Lösung. Aber wenn man alles andere versucht hat, dann sagt die WHO: Dann muss man auch über eine Impfpflicht nachdenken.“