„Unser Leben ist in zwei Teile gebrochen: vor dem Krieg und nach dem Krieg“
Es sind unschuldige Menschen, die der russische Präsident Wladimir Putin seit rund zwei Wochen bombardiert und um ihre Zukunft bringt. Eine von ihnen ist Anna. Der MOPO schildert die junge Ukrainerin, wie sie den Krieg in ihrer Heimat erlebt hat, wie ihr die Flucht aus Kiew gelang und warum sie den Russen schwere Vorwürfe macht. Das Protokoll ihrer Flucht:
Als der Krieg begann, war ich noch in Kiew. Ich war im Bett und habe geschlafen. Es war sechs Uhr morgens. Plötzlich kam mein Nachbar und trat gegen die Wohnungstür. Ich habe aufgemacht und er schrie: „Der Krieg hat begonnen!“ Dann rief meine Mutter an: „Pack sofort deine Sachen, hol deine Oma ab und fahrt sofort aufs Land!“ Ich habe acht Koffer in 20 Minuten gepackt, drei davon mit Essen. Ich habe mein ganzes Leben in acht Koffer gepackt und alles zurückgelassen.
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Es sind unschuldige Menschen, die der russische Präsident Wladimir Putin seit rund zwei Wochen bombardiert. Eine von ihnen ist Anna. Die 29-Jährige ist Social-Media-Analystin und arbeitet für ein internationales Marktforschungsinstitut. Der MOPO schildert sie, wie sie den Krieg in ihrer Heimat erlebt hat, wie ihr die Flucht aus Kiew gelang und warum sie den Russen schwere Vorwürfe macht. Das Protokoll ihrer Flucht:
Als der Krieg begann, war ich noch in Kiew. Ich war im Bett und habe geschlafen. Es war sechs Uhr morgens. Plötzlich kam mein Nachbar und trat gegen die Wohnungstür. Ich habe aufgemacht und er schrie: „Der Krieg hat begonnen!“ Dann rief meine Mutter mich an: „Pack sofort deine Sachen, hol deine Oma ab und fahrt sofort aufs Land!“ Ich habe acht Koffer in 20 Minuten gepackt, drei davon mit Essen. Ich habe mein ganzes Leben in acht Koffer gepackt und alles zurückgelassen.
Dann bin ich zum Haus meiner Oma gerannt, sie wohnt nicht weit weg. Sie ist 87 und machte gerade Frühstück. „Wir müssen weg!“, sagte ich zu ihr. Sie war wie ein hilfloses Baby, sie wollte nicht weg, sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ich habe sie gepackt und unsere Koffer und ein Freund von uns kam und hat uns zum Haus meiner Familie auf dem Land, ein Stück außerhalb von Kiew, gebracht. Meine Mutter und ich fingen dort sofort an, Notfall-Rucksäcke zu packen. Und wir haben die Fenster mit Klebeband abgeklebt, weil wir hofften, dass bei Explosionen die Scherben nicht durchs ganze Haus fliegen würden.
Unser Vorratskeller ist kein Ort, um vor einem Krieg Schutz zu suchen
In der ersten Nacht bin ich um fünf Uhr früh aufgewacht, weil es in der Nähe eine heftige Explosion gab. Sie war so stark, dass die Fenster zitterten. Ich schrie: „Wir müssen runter in den Keller!“ Dort haben wir die restliche Nacht verbracht. Es war eiskalt, da war überhaupt nichts vorbereitet. Das ist unser Vorratskeller, da bewahren wir Sachen auf. Das ist kein Ort, um vor einem Krieg Schutz zu suchen. Am nächsten Morgen habe ich gedacht, dass das einer der glücklichsten Momente meines Lebens ist. Einfach nur rauszugehen und das Sonnenlicht zu sehen. Zu sehen, dass die Welt noch da ist und ich am Leben bin. Meine Familie am Leben ist. Ich werde diesen Moment nie vergessen.
Um in den Keller zu kommen, muss man unser Haus verlassen und einmal außen rum laufen. Jedes Mal, wenn wir dorthin rannten, dachte ich, es erschießt mich gleich einer. Ich bin langsam wirklich verrückt geworden. Ich habe die ganze Zeit geweint. Meine Mutter stand auch unter Schock. Mein Vater war der Einzige, der ruhig wirkte und logisch dachte – das hat uns geholfen, in dieser Situation nicht komplett durchzudrehen.
Dann haben wir angefangen, den Keller herzurichten. Wir haben Behelfsbetten konstruiert, einen Heizstrahler besorgt, Essen und Wasser runtergebracht, die Notfall-Rucksäcke bereitgelegt. Da waren unsere Dokumente und Erste Hilfe-Sachen drin. Wir sind so sechsmal am Tag zum Keller gerannt und haben immer die Nächte dort verbracht. Es war so schrecklich, es war ungemütlich, ich hatte solche Angst. Die Explosionen waren so heftig, dass die Metalltür gewackelt hat. Ich hatte die ganze Zeit Ohrstöpsel drin, ich habe die Geräusche einfach nicht ertragen. Zeitweise fiel auch der Strom aus. Fünf Tage ging das so.
Einen Tag bist du Tourist in Europa und am nächsten Tag bist du ein Kriegsflüchtling
Das Schlimmste waren die Nächte. Wenn die Dunkelheit hereinbrach, haben wir uns komplett schutzlos gefühlt. Wir haben gedacht, uns hilft hier niemand. Ich hatte Albträume, dass man uns als Geiseln nimmt. Dass jemand in unser Haus eindringt und uns umbringt. Es war der Horror. Ich habe fast den Verstand verloren und es wurde immer schlimmer. Irgendwann habe ich kapiert: Ich muss mein Leben retten. Und ich wusste: Es muss schnell gehen. Denn jeden Tag wurde es schwieriger, Kiew zu verlassen.
Am 2. März sagte ich zu meiner Mutter: „Ich will fliehen. Und ich will, dass du mitkommst. Wir dürfen nicht länger warten.“ Meine Oma ist zu alt, sie kann nicht weg, mein Vater blieb bei ihr. Eigentlich wollte meine Mutter auch nicht gehen. Sie dachte, unser Haus sei einigermaßen sicher, es war ja noch nicht bombardiert worden. Aber das Gefühl der Sicherheit war eine Illusion.
Ich kann es immer noch nicht glauben. Zwei Wochen vorher war ich noch in Portugal im Urlaub. Meine Freunde sagten mir damals: „Bleib da! Bleib da, denn da ist es sicherer.“ Aber ich wusste, ich kann dort nicht bleiben. Meine Familie war ja noch in Kiew und es hätte mich wohl umgebracht, nicht bei ihnen zu sein.
Obwohl das die schlimmsten Tage meines Lebens waren, habe ich es keine Sekunde bereut, dass ich zurückkam und bei meiner Familie war. Dass ich ihnen geholfen habe, dass ich meine Oma geschnappt und sie aus Kiew evakuiert habe. Aber es ist komplett irre: Einen Tag bist du Tourist in Europa und am nächsten Tag bist du ein Kriegsflüchtling.
„Mama, ich will von hier fliehen. Und ich will, dass du mitkommst“
Bevor meine Mutter und ich Kiew verlassen haben, sind mein Vater und ich nochmal losgezogen, um in den umliegenden Läden Essen zu besorgen. Aber die hatten keine Lieferungen bekommen, wir konnten also nur das kaufen, was von vor dem Krieg noch übrig war. Im Grunde genommen gab es nur noch ein wenig Rettich, kein anderes Gemüse oder Obst. Keine Milch, kein Joghurt, nichts dergleichen. Nur Essen in Dosen. Wir haben so viel gekauft, wie wir konnten.
Meine Mutter und ich sind dann zum Hauptbahnhof in Kiew gefahren. Erst am Abend haben wir es geschafft, uns in einen der Züge zu quetschen. Es war der vierte Zug, bei dem wir es versucht hatten. Da waren Tausende Leute im Bahnhof. Am Anfang haben sie versucht, hauptsächlich Frauen mit Kindern zu evakuieren. Aber die Züge waren so vollgepackt, dass nicht einmal diese Frauen mit ihren Kindern an Bord gelangen konnten – geschweige denn, wir.
Eine Stunde, nachdem wir den Bahnhof verlassen hatten, schlug dort eine Rakete ein
Irgendwann haben wir es dann in einen der Züge in Richtung Westukraine geschafft. Acht Stunden lang saßen wir dort auf dem Boden, direkt neben der Toilette. Aber ich war so unendlich froh und dankbar, wir hatten so ein Glück. Eine Stunde, nachdem wir den Bahnhof verlassen hatten, hörten wir die Nachricht, dass eine Rakete das Gebäude getroffen hatte. Da, wo wir vor einer Stunde noch waren. Ich bin mir sicher: Da haben Engel auf uns aufgepasst und uns geholfen, rauszukommen.
Wir sind dann in eine Stadt in der Westukraine gekommen. Wir verbrachten die Nacht dort am Bahnhof, das Militär hatte eine Ausgangssperre verhängt. Am nächsten Morgen wurden wir von Nonnen in einem Kloster aufgenommen. Das war großartig, diese Frauen waren so lieb.
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Am Tag darauf beschlossen meine Mutter und ich, noch weiter westwärts zu fahren. Da gibt es eine Sicherheitszone, ganz im Westen der Ukraine. Da wollte meine Mutter hin. Ich fuhr über die Grenze weiter nach Rumänien. Dort haben sich Freiwillige um mich gekümmert und mich in ein Flüchtlingscamp gebracht.
Niemals im Leben hätte ich gedacht, dass ich mal ein Flüchtling sein würde
Ich bin eine Person, die in ihrem Leben viel gereist ist und auch zwei Jahren in Bali gelebt hat, in einer Welt voller Avocado-Toasts und Smoothies. Niemals im Leben hätte ich gedacht, dass ich mal ein Flüchtling sein würde. Dass ich in einem Flüchtlingscamp leben würde. Aber da war ich nun. Umgeben von anderen Menschen, die komplett verängstigt waren und ihr altes Leben zurücklassen mussten. Alle waren wir im gleichen Boot.
Ich habe das Camp kurze Zeit später verlassen und bin weiter nach Tschechien, nach Prag gefahren. Dort bin ich jetzt, bei einer Freundin. Gestern ging ich mit der Gewissheit ins Bett, dass keine Rakete auf dieses Haus geschossen werden kann. Und dieses Gefühl zu wissen, dass ich hier bin und keiner versuchen wird, mich umzubringen, das ist einfach so viel wert.
Aber mein Herz ist nicht ruhig und friedlich. Mein Vater, meine Oma und mein Bruder sind noch in der Ukraine.
Das, was wir Ukrainer erlebt haben, bricht dein Leben
Ich weiß nicht, ob es möglich ist, das alles nachzuvollziehen. Wir Ukrainer sind alle so traumatisiert. Unser Leben ist in zwei Teile zerbrochen, es gibt ein „Vor dem Krieg“ und ein „Nach dem Krieg.“ Es ist ein Wendepunkt. Nichts wird mehr so sein wie zuvor.
Was mir Hoffnung gibt: Wir werden diesen Krieg gewinnen. Ich glaube an unsere Armee, ich glaube an unsere Helden, ich glaube an jeden einzelnen Ukrainer, der jetzt gerade sein Bestes gibt, jeder auf seine Art, um diese Invasion, diesen Wahnsinn, diesen Teufel zu stoppen.
Für diesen Krieg gibt es keine Rechtfertigung. Die ganzen russischen Soldaten sagen, sie hätten nicht gewusst, dass sie in die Ukraine müssen, um dort in einem Krieg zu kämpfen. Sie sagen, dass sie dachten, sie finden hier Russen, die unterdrückt werden und die sie befreien müssen. Ich glaube ihnen kein einziges Wort. Ich bin sicher: Die wussten, wo sie hingehen. Das sind Erwachsene. Die wussten, was los ist. Ich habe kein Mitleid mit ihnen. Ich glaube auch nicht, dass Russen Mitleid verdienen. Die zahlen ihre Steuern, die unterstützen diese Regierung, die haben diese Regierung gewählt.
Es gibt immer noch Wege, die Wahrheit zu erfahren
So viele Russen leben noch immer in dieser Illusion, die die Propaganda für sie aufgebaut hat. Sie sagen, dass sie keinen Zugang zu Information haben oder bei Kundgebungen zusammengeschlagen werden. Aber ganz ehrlich: Youtube zum Beispiel funktioniert da noch. Es gibt immer noch Wege, die Wahrheit zu erfahren – wenn man denn will. 2014 sind wir Ukrainer auf die Straße gegangen, Studenten wurden getötet, Leute, die so alt waren wie ich, wurden getötet. Aber wir haben das überstanden und wir haben unser Land verändert, die Regierung abgesetzt. Aber die Russen tun das nicht.
Ich bin normalerweise eine mitfühlende Person, aber jetzt gerade empfinde ich nur Wut und unglaubliche Müdigkeit. Ich bitte alle, die meine Geschichte lesen: Unterstützt uns weiter, verbreitet die Nachrichten, die Wahrheit. Helft den Ukrainern weiter. Wir sind so dankbar dafür. Bitte gebt uns nicht auf und vergesst uns nicht. Zusammen werden wir gewinnen.
Aufgezeichnet von Miriam Khan