Erbittert umkämpft: Darum will Putin unbedingt Sjewjerodonezk erobern
Die Bilder gleichen sich, die Schilderungen auch: Ähnlich erbittert wie um Mariupol wird nun um die ostukrainische Industriestadt Sjewjerodonezk gekämpft. Der Gouverneur der Region hält die Verteidigung zwar für eine „Mission Impossible“, will aber nicht aufgeben. Sjewjerodonezk ist zu wichtig – in vielerlei Hinsicht.
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Die Bilder gleichen sich, die Schilderungen auch: Ähnlich erbittert wie um Mariupol wird nun um die ostukrainische Industriestadt Sjewjerodonezk gekämpft. Der Gouverneur der Region hält die Verteidigung zwar für eine „Mission Impossible“, will aber nicht aufgeben. Sjewjerodonezk ist zu wichtig – in vielerlei Hinsicht.
„Es ist unmöglich, den Beschuss zu zählen“: Seit Tagen wird die ostukrainische Stadt Sjewjerodonezk von Russlands Streitkräften belagert. Die Lage dort sei die schlimmste im ganzen Land, Sjewjerodonezk werde „rund um die Uhr bombardiert“, sagte der Gouverneur des Gebiets Luhansk, Serhij Hajdaj, vergangene Woche.
Verteidigung von Sjewjerodonezk eine „Mission Impossible“
Und dabei sieht es derzeit nicht gut aus für die Ukrainer: Sjewjerodonezk ist bereits fast vollständig von besetztem Gebiet, also Feindesland, umschlossen. Nachschub und Versorgung kommen nur noch schwer in die Stadt. Und: Der Gegner habe eine zehnfache Feuerüberlegenheit, sagte Oberbefehlshaber Waleryj Saluschnyj in der Nacht zu Montag. „Jeder Meter der ukrainischen Erde ist dort mit Blut durchtränkt – doch nicht nur mit unserem, sondern auch mit dem der Besatzer.“
Am Samstag noch kontrollierten die Ukrainer laut eigenen Angaben rund ein Drittel der Stadt. Am Montag dann musste Kiew den Verlust des Zentrums von Sjewjerodonezk einräumen. „Stand heute kontrolliert Russland leider über 70 Prozent, jedoch nicht die ganze Stadt“, sagte Serhij Hajdaj beim TV-Sender Belsat.
Darum will Putin unbedingt Sjewjerodonezk erobern
Warum aber wird um die Stadt so erbittert gekämpft? Sjewjerodonezk gilt als eine Keimzelle des prorussischen Separatismus im Donbass. Für Russlands Präsident Wladimir Putin hat eine Eroberung daher symbolische Bedeutung – genau wie für die Ukraine ihre Verteidigung. Vor knapp 20 Jahren unternahm man in der Stadt erstmals den Versuch, die Ukraine zu spalten: Ende November 2004 trat in Sjewjerodonezk der sogenannte „Allukrainische Kongress der Abgeordneten aller Ebenen“ zusammen. Statt „allukrainisch“ war die Zusammenkunft allerdings von Vertretern der prorussischen „Partei der Regionen“ dominiert.
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Zu der Zeit nahm in Kiew gerade die „Orange Revolution“ Fahrt auf, die die Ukraine weg von Russland und näher an Europa führen wollte. Im Donbass, im Grenzgebiet zu Russland, hatten viele Menschen Angst vor dieser Entwicklung. Die „Partei der Regionen“ verstand sich als deren Vertreterin und drohte mit der Ausrufung der Autonomie der Region. Schlussendlich blieb es jedoch bei bloßen Drohungen. Beobachter werten den „Allukrainischen Kongress“ in Sjewjerodonezk dennoch als ersten Anlauf, die Ukraine zu spalten – auch wenn das nicht gelang.
Dabei blieb es jedoch nicht: Zehn Jahre später, nach der Krim-Annexion 2014, besetzten bewaffnete, lokale Separatisten gemeinsam mit russischen Soldaten und Söldnern die drei benachbarten Städte Sjewjerodonezk, Lyssytschansk und Rubischne. Die ukrainische Armee befreite die Region wenig später wieder und setzte in Sjewjerodonezk ein Zeichen: Die Stadt wurde zum Zentrum der militärisch-zivilen Verwaltung der Region ausgebaut, mehrere Institutionen und Hochschulen aus Luhansk zogen dorthin um. Für die Separatisten eine empfindliche Niederlage.
In Sjewjerodonezk passiert gerade das Gleiche wie in Mariupol
Sjewjerodonezk ist aber auch ein wichtiger Industriestandort: In der 100.000-Einwohner-Stadt befindet sich das größte Chemiewerk des Landes, betrieben von Asot, einem Düngemittelhersteller. Er versorgt weite Teile der Welt, darunter Europa. Daneben gibt es weitere, kleinere Chemiefirmen in Sjewjerodonezk. Die Zerstörung der Stadt bedeutet, dass ein wichtiger Industriezweig ausfällt – wodurch das ganze Land empfindlich geschwächt wird.
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Tatsächlich ist das Gelände des Asot-Werks fast als einziges Gebiet in Sjewjerodonezk bislang noch in der Hand der Ukrainer. Dutzende Zivilisten, die die Stadt nicht verlassen wollten oder konnten, sind dorthin geflüchtet und verschanzen sich in unterirdischen Bunkeranlagen. Ähnlich lief das Ganze bereits in Mariupol ab: Als die Stadt längst in Schutt und Asche lag, hielten ukrainische Kämpfer noch das Stahlwerk Azovstal als letzte Bastion der Verteidigung. Auch dort hatten sich Hunderte Zivilisten vor den Angreifern versteckt.
In Sjewjerodonezk wird sich das Schicksal des Donbass entscheiden
Dass um Sjewjerodonezk so erbittert gekämpft wird, hat aber auch mit seiner geographischen Lage zu tun. Die Stadt ist zusammen mit dem benachbarten Lyssytschansk die letzte große in der Region Luhansk, die noch nicht unter (pro-)russischen Kontrolle steht.
Fallen die beiden Orte, ist Putin seinem Ziel der Komplett-Eroberung des Donbass einen großen Schritt näher gekommen – und Beobachter fürchten, dass er die besetzten Gebiete nicht mehr an die Ukraine zurückgeben wird. Nicht nur Präsident Wolodymyr Selenskyj glaubt deshalb, dass sich in Sjewjerodonezk „in erheblichem Maße“ das Schicksal des Donbass entscheiden wird.