35 Jahre Wiedervereinigung: „Der Westen ahnt nicht, wie tief der Hass im Osten ist“
Der Linken-Politiker Bodo Ramelow und der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk analysieren in einem neuen Buch den Stand der Dinge 35 Jahre nach der deutschen Vereinigung. Der Befund beunruhigt.
Bodo Ramelow hatte Ostverwandtschaft und reiste seit Anfang der 1980er Jahre regelmäßig von Marburg aus im kleinen Grenzverkehr in die DDR. Deshalb dachte er, er wisse Bescheid über Land und Leute. „Als ich dann herkam, stellte ich fest, ich hatte gar nichts verstanden“, sagt der frühere Thüringer Ministerpräsident, heute Bundestagsvizepräsident, von der Linken.

Ilko-Sascha Kowalczuk wuchs in Ostberlin auf, in einem staatsnahen Elternhaus, mit dem er später brach. Als Jugendlicher wusste er genau, was in Westberlin in Clubs und Kinos lief. „Mit einem Teil meines Wesens lebte ich immer im Westen“, sagt der Historiker und Autor.
Geschichte voller Missverständnisse
Der Westler mit Ostgeschichte, der Ostler mit Blick nach Westen: In einem neuen Gesprächsband analysieren Ramelow (69) und Kowalczuk (58) den Stand der Dinge 35 Jahre nach der Einheit. Der Titel lässt ahnen, dass es nicht gut steht: „Die neue Mauer – Ein Gespräch über den Osten“. Die beiden erzählen eine Geschichte voller Missverständnisse.

Ramelow erinnert an überzogene Hoffnungen im Osten – an die D-Mark, die Freiheit, das bundesdeutsche System. Dazu westliche Arroganz, mangelndes Verständnis für die DDR-Verhältnisse. Selbst Gewerkschaften seien als „Besatzungsarmee“ empfunden worden. Kowalczuk schildert die Dynamik der Wendezeit: „Man stand morgens anders auf, als man abends ins Bett gegangen war.“ Ramelow verweist auf den Arbeitsmarkt: „Im Westen gab es dafür keinerlei Sensibilität.“
Ein langes Küchentischgespräch
Über knapp 240 Seiten reden die beiden über alles: Sprachunterschiede, Jugendweihe, Gesundheitswesen, den Blick auf die USA und Russland, das Sozialsystem, Medien und den Film „Das Leben der anderen“. Erkenntnisse, die nicht neu sind, aber im Format eines endlosen Küchentischgesprächs neue Schärfe bekommen.
„Viele im Westen ahnen gar nicht“, sagt Kowalczuk, „wie tief der Hass im Osten auf Westler und das westliche System ist. Es ist wirklich schlimm.“ Parteien wie die AfD nutzen das. Für ihn ist der Osten oft Vorhut negativer Entwicklungen: „Alles, was hier geschieht, vollzieht sich irgendwann auch im Westen.“
„Grenzen längst fließend“
Beim AfD-Ergebnis der Bundestagswahl sprach man von einer neuen Mauer. „Legt man die Zweitstimmen zugrunde, ist der Osten blau. Guckt man genauer hin, sind die Grenzen längst fließend“, sagt Kowalczuk. Mit Sorge schauen beide auf die Kommunalwahlen in NRW.
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Wie dennoch Zuversicht gewinnen? Ramelow spricht von seinem Traum einer Demokratie als ständiger Verbesserung. Kowalczuk erinnert daran, dass historische Prozesse nie linear verlaufen. Am Ende blicken beide nach Europa. „Eine deutsche Verfassungsdebatte, die in eine europäische Verfassung mündet, wäre ein lohnendes Projekt“, sagt Ramelow. Und Kowalczuk ergänzt: „Wir haben viel vor uns.“
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