Solidarität mit Ungeimpften? „Wir verbieten ja auch nicht Fußball spielen“
Solidarität mit Ungeimpften als Protest-Trend? Bei den Mega-Demos gegen die Corona-Politik in Hamburg sind auch Menschen mitgelaufen, die zwar selbst keine Impfgegner sind, aber ihre Solidarität mit genau denen zeigen wollten. Die MOPO hat Verfassungsjurist Steffen Augsberg vom Deutschen Ethikrat gefragt, ob das nicht totaler Quatsch ist – und hat eine überraschende Antwort bekommen.
MOPO: Herr Augsberg, sind die Vorwürfe gegenüber Ungeimpften zu hart?
Solidarität mit Ungeimpften als Protest-Trend? Bei den Mega-Demos gegen die Corona-Politik in Hamburg sind auch Menschen mitgelaufen, die zwar selbst keine Impfgegner sind, aber ihre Solidarität mit genau denen zeigen wollten. Die MOPO hat Verfassungsjurist Steffen Augsberg vom Deutschen Ethikrat gefragt, ob das nicht totaler Quatsch ist – und hat eine überraschende Antwort bekommen.
MOPO: Herr Augsberg, ist Solidarität mit Ungeimpften nun nötig oder einfach nur Quatsch?
Steffen Augsberg: Weil Impfen allen nutzt, finde ich es zunächst nicht naheliegend, mich mit Ungeimpften solidarisch zu erklären. Es ist aber auch nicht völlig abwegig. Die Debatte hat sich in den vergangenen Wochen verschärft, und die wechselseitigen Vorwürfe sind im Ton und in der Sache hart. Dass man sich gegen pauschale Ausgrenzungen stellt, kann ich nachvollziehen. Wie bei anderen Demonstrationen besteht aber bei der Teilnahme an Corona-Demos die Gefahr, mit hoch problematischen Personen zusammen zu laufen. Das muss jeder für sich entscheiden.
Die Vorwürfe gegen Ungeimpfte sind zu hart?
Man muss bei einfachen Schuldzuweisungen immer aufpassen. Ich habe das Gefühl, dass es für manche attraktiv ist, Sündenböcke zu haben. Einige Formulierungen schießen über das Ziel hinaus. Zum Beispiel „asozial“ oder die „Tyrannei der Ungeimpften“. Mit solchen Worten wecken wir Assoziationen schlimmster Art. Die Tatsache, dass wir zweifellos besser dastünden, wenn wir eine höhere Impfquote hätten, ist das eine. Der Umgang damit das andere. Natürlich ist es ekelhaft, wenn sich Impfgegner einen „Judenstern“ anheften und sich in eine Reihe mit Opfern der Schoah stellen. Es ist aber problematisch, die sehr heterogene Gruppe der Ungeimpften einheitlich zu verurteilen. Es sind radikale Impfgegner darunter, aber auch Menschen, die schlicht Angst haben.
Die Unterteilung in „Vernünftige“ auf der einen Seite und „Unvernünftige“ auf der anderen ist unterkomplex. Auch viele Geimpfte haben sich nicht aus rationalen Gründen impfen lassen, sondern aus Angst oder Herdentrieb. Wir sollten die individuelle Lebensführung nicht strikt am Maßstab der Rationalität messen.

Aber auf den Intensivstationen liegen mehrheitlich Ungeimpfte.
Ja, aber es waren nie nur die Ungeimpften, die betroffen sind. Und das sehen wir mit Omikron nun vermutlich noch vermehrt. Die Impfung schützt, aber nicht so gut wie erhofft. Auch in Ländern mit einer höheren Impfquote wie Portugal sind nicht alle Corona-Probleme aus der Welt.
Was spricht für eine Solidarität mit Ungeimpften?
Dass man in einer Demokratie dafür steht, dass unterschiedliche Positionen gehört werden. Das hat nicht nur einen solidarischen, sondern auch einen verfassungsrechtlichen Gehalt. Etwas überspitzt kann man sagen: Grundrechte sind als Minderheitenschutz gerade für „Aluhutträger“ da. Wir brauchen keine Meinungs- und Versammlungsfreiheit für die, die das sagen, was ohnehin alle denken. Sinn der Sache ist, dass diejenigen ihre Meinung äußern können, die sonst in der politischen Debatte oder in Medien zu kurz kommen. Wobei es da natürlich Grenzen gibt. Schmähkritik, Formalbeleidigungen oder Holocaustleugnung dürfen nicht sein.
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Andererseits sind Impfungen der Weg raus aus der Pandemie. Menschen sterben, und es entsteht ein enormer sozialer und wirtschaftlicher Schaden. Gibt es da nicht eine moralische Verpflichtung für den Piks?
Es gibt eine moralische Verpflichtung, eigene Bedenken zurückzustellen. Aber was ist, wenn jemand schon schwerere Impffolgen erlebt hat und deshalb besondere Angst hat? Da wird es schon schwieriger. Zudem gibt es eine Fülle von individuellen Verhaltensweisen, die potenziell gesellschaftliche Auswirkungen haben. Wenn Sie in der aktuellen Situation Fußball spielen, sich verletzen und ins Krankenhaus müssen, belasten Sie das ohnehin überanstrengte Gesundheitssystem. Aber verbieten wir deshalb Fußball? Man muss sehr aufpassen, dass man nicht nur noch duldet, was angeblich objektiv vernünftig ist. Wir müssen Raum lassen für individuelle Sorglosigkeit.
Also wiegt trotz Pandemie die Freiheit des Einzelnen mehr als das Gemeinwohl?
Verfassungsrechtlich denken wir immer vom Einzelnen her, weil wir in der deutschen Geschichte mit einer überzogenen Gemeinschaftsbezogenheit schlimmste Erfahrungen gemacht haben. Gleichzeitig ist klar, dass wir nicht völlig losgelöst voneinander sind und auch verpflichtet sind, auf andere zu achten. Die eigene Freiheit geht nur so weit, bis sie andere zu stark einschränkt. Aber wir müssen sehr aufpassen, nicht von der Grundlage unseres Gemeinwesens abzudriften: Der Berücksichtigung des Individuums und seiner Eigenarten, auch wenn wir sie nicht nachvollziehen können.
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Aber Impfen ist eben nicht nur Privatsache.
Genau. Deshalb sollten wir in unseren unterschiedlichen Funktionen, etwa als Ethikrat, auch mithelfen, zu erklären, warum man sich impfen lassen sollte. Und vielleicht können wir irgendwann nicht anders, als eine Impfpflicht einzuführen. Aber dann muss genau begründet werden, warum andere Möglichkeiten nicht funktionieren.
Der Ethikrat hat sich doch gerade für eine Ausweitung der Impfpflicht ausgesprochen.
Die Mehrheit ist dafür, die bestehende einrichtungsbezogene Impfpflicht auszuweiten. Aber sie ist uneins, ob es alle Erwachsenen betreffen sollte oder nur diejenigen mit hohen Risikofaktoren und entsprechend höherem Risiko, die Krankenhäuser zu belasten. Ich gehöre zu den vier Mitgliedern, die die Ausweitung abgelehnt haben. Wir denken, dass es noch zu viele Unsicherheiten gibt.
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Was meinen Sie?
Zum Beispiel den Zeitpunkt. Führt man sie jetzt ein, zeigt sie frühestens im Frühjahr Effekte. Akut hilft das nicht, und für den nächsten Herbst könnte es zu früh sein. Zudem brauchen wir gegen Omikron vermutlich einen neuen Impfstoff. Ich finde es widersprüchlich, jetzt eine Impfpflicht zu beschließen, obwohl es um die Wirksamkeit der Impfstoffe jetzt schlechter steht als noch im Sommer, als sie politisch ausgeschlossen wurde. Neben den potenziell problematischen gesellschaftlichen Folgen von mehr Radikalisierungen gibt es zudem ein massives Umsetzungsproblem – besonders wenn jetzt alle paar Monate geimpft werden muss. Ich bin nicht prinzipiell gegen eine Impfpflicht und denke auch nicht, dass sie keinesfalls gangbar wäre. Aber so etwas muss geklärt sein.