• Polizisten am Tatort in Archford Croft, Milton Keynes, Großbritannien.
  • Foto: imago images/ZUMA Press

Sie greifen an und morden: Briten schockiert von Teenie-Gewalt – Täter immer jünger

London/Reading –

Von der „Seuche unserer Generation“ spricht der britische Jugendrat: Angriffe mit Messern unter Jugendlichen, viel zu oft enden sie tödlich. Die Regierung wirkt hilflos. Und die Corona-Pandemie könnte das Problem anheizen.

Olly hat keine Chance. Mehrere Angreifer stechen auf ihn ein, von einem „Hinterhalt“ ist später in der britischen Presse die Rede. Olly stirbt in einem Park in einem Vorort von Reading. Er ist 13 Jahre alt, gerade erst ein Teenager. Seine Mörder: Gleichaltrige. Es ist der jüngste Höhepunkt einer Welle von Jugendgewalt, vor allem mit Messern, die Großbritannien schon seit Jahren in Atem hält. Von der „Generation Knife Crime“ ist die Rede, der „Generation Messergewalt“. Die Regierung wirkt hilflos.

Messergewalt in Großbritannien: Die Täter werden immer jünger

Das Problem trifft auch andere Altersgruppen. Seit 2014/15 – das statistische Jahr endet im März – hat sich die Zahl der Vorfälle, bei denen Messer oder scharfe Gegenstände eingesetzt wurden, insgesamt fast verdoppelt. 2019/20 wurden in England (ohne die Region Greater Manchester) und Wales rund 46.000 Fälle erfasst.

Zwei Gerichtsmediziner gehen in Richtung eines Zeltest auf dem Bugs Bottom Feld, wo der 13-Jährige erstochen wurde.

Der Tatort in Reading: Zwei Gerichtsmediziner gehen in Richtung eines Zeltest auf dem Bugs Bottom Feld, wo der 13-Jährige erstochen wurde.

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Betroffen sind vor allem junge Männer zwischen 18 und 24 Jahren. Aber Täter und Opfer werden immer jünger. So stieg die Zahl der Taten von unter 18-Jährigen allein zwischen 2016 und 2018 um 77 Prozent, die Zahl der unter 16-jährigen Krankenhausopfer verdoppelte sich seit 2012 fast.

Auch in Deutschland werden häufig Messerattacken gemeldet. Doch Belege für einen bundesweiten Anstieg liegen nicht vor, denn noch immer gibt es – anders als in England – keine einheitlichen Statistiken.

Einige richteten ihre Wut nach außen – sie greifen an und morden

Die Gründe für Messerangriffe sind vielschichtig. Klar ist, dass vor allem Jugendliche aus ärmeren Gegenden betroffen sind. Der britische Jugendrat nennt Armut und Ungleichheit als Ursachen. „Die Wurzel des Problems ist, dass Menschen Spaltung und Unsicherheit nicht mögen“, schreiben die Wissenschaftler James Densley von der Uni Oxford und Michelle Lyttle Storrod von der US-amerikanischen Uni Rutgers. „Sie sind frustriert, wütend.“ Einige richteten ihre Wut nach außen – sie greifen an und morden.

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Die Zukunft junger Menschen sei oft ungewiss, betonen die Autoren – und verweisen auch auf die zunehmende Verschuldung von Schülern und Studenten sowie dem Ende der Freizügigkeit aufgrund des Brexits. „Wenn die Gesellschaft von Misstrauensgefühlen zerrissen wird, sind junge Menschen, die in ihrem Leben bereits Schwierigkeiten erlebt haben oder von Institutionen enttäuscht wurden, besonders gefährdet.“

Rigide Sparmaßnahmen bei der Polizei

Kritiker werfen der britischen Regierung vor, mit rigiden Sparmaßnahmen zum Erstarken der Jugendgewalt beigetragen zu haben. So wurden in den vergangenen Jahren Hunderte Jugendzentren geschlossen und Hunderte Millionen Pfund für Jugendbelange gestrichen. Außerdem waren in den 2010er Jahren fast 20.000 Polizeistellen abgebaut worden, erst seit kurzem wird wieder aufgestockt.

Dafür versucht die Regierung, mit einem harten Durchgreifen die Gewalt einzudämmen. Wer ein Messer trägt, muss mit schweren Strafen rechnen. Doch vielerorts werde der Polizei entweder misstraut oder sie sei aufgrund von Sparmaßnahmen gar nicht in der Lage, Präsenz zu zeigen, betonen Experten. „In solchen Situationen verwundert es nicht, dass junge Menschen es als gerechtfertigt oder notwendig ansehen, eine Waffe zu tragen“, betont der Kriminologe Iain Brennan von der Universität Hull.

„Kultur der Gewalt und der Messer, die in den sozialen Medien gefördert wird“

Eine zentrale Rolle spielen Gangs. In vielen Stadtteilen herrschen Bandenkriege, Rache und Revanche sind an der Tagesordnung, Gewalt gilt als besonderes Zeichen von Mut und Männlichkeit. Vor kurzem wurden fünf Mitglieder einer Bande in der Stadt Milton Keynes, darunter zwei 17-Jährige, zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie hatten eine Geburtstagsparty überfallen und zwei mutmaßliche Mitglieder einer verfeindeten Gang erstochen. Die Opfer: 17 Jahre alt.

Blut an dem Haus, wo zwei 17-Jährige in Milton Keynes getötet wurden.

Blut an dem Haus, wo zwei 17-Jährige in Milton Keynes getötet wurden.

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imago images/ZUMA Press

„Der allzu vertraute Hintergrund für diese sinnlosen und tragischen Morde war die Rivalität zwischen Banden junger Männer“, sagte der Richter. Verantwortlich sei eine „Kultur der Gewalt und der Messer, die in den sozialen Medien gefördert wird“. Der britische Jugendrat bezeichnete  in einem Bericht vor rund einem Jahr als „Seuche unserer Generation“ – verknüpft mit scharfer Kritik.

Die Regierung höre nicht auf junge Menschen und reagiere nicht auf deren Ängste, heißt es da. Die bereitgestellten Mittel reichten nicht aus. Notwendig seien mehr Jugendarbeiter, Hilfen für Eltern und Sicherheitsleute an Schulen.

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Experten rechnen damit, dass die Kriminalität noch weiter zunimmt – wegen der Corona-Pandemie. Denn während des wochenlangen Lockdowns, derzeit ist in England bereits der dritte in Kraft, stachelten sich die Gangmitglieder im Internet an, fürchten Soziologen. Sobald sich die Feinde dann wieder persönlich gegenüberstehen, könnten sich Hass und Wut Bahn brechen. (dpa)

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