Vannes

Der Justizpalast im westfranzösischen Vannes. Foto: picture alliance/dpa | Michael Evers

Missbrauchsopfer vor Gericht: „Ich habe ein Loch im Herz“

Ein Chirurg hat den Missbrauch von 299 jungen Patientinnen und Patienten in Frankreich gestanden. Die heute erwachsenen Opfer sprechen von schwerer Traumatisierung und fragen: Wieso stoppte niemand den Arzt?

Es sind Fotos meist lächelnder Kinder, Schnappschüsse oder Porträts vor dem Geburtstagskuchen, die im Missbrauchsprozess gegen einen Chirurgen in Westfrankreich an die Wand des Gerichtssaals projiziert werden. Über Wochen sagen die heute erwachsenen Frauen und Männer gegen den 74 Jahre alten Mediziner Joël Le Scouarnec aus, dem die Anklage vorwirft, zwischen 1989 und 2014 insgesamt 158 Patienten und 141 Patientinnen im Durchschnittsalter von elf Jahren missbraucht zu haben.

Zu den Taten kam es im Operationssaal, in der Phase der Anästhesie oder des Aufwachens, genauso aber auf den Patientenzimmern. Der Prozess im bretonischen Vannes, der Frankreich erschüttert, katapultiert die Opfer zurück in die Zeit der Fotos, als sie wehrlose Kinder oder Jugendliche waren. „Ich fühle Schmerz für das Kind, das ich mit elf Jahren war“, sagt ein Betroffener aus.

Traumatisierte Opfer

Das Ausmaß an Traumatisierung und psychologischer Schäden, über das die Opfer vor Gericht sprechen, ist unermesslich. Auch Kinder, die den Missbrauch als solchen nicht bemerkten, reagierten unbewusst auf die erlittene Gewalt.

„Mein Körper sendete mir seit meiner Kindheit Signale, die ich nicht verstand“, sagt eine 33-Jährige aus, die vor 25 Jahren für eine Blinddarm-PO in die Klinik kam. „Ich leide unter Schwitzen, wenn ich Stress habe.“ Während des Studiums sei sie depressiv gewesen und habe alles hinwerfen wollen. „Ich habe mich immer geschämt.“

Was der Arzt, der seinen jahrzehntelangen Missbrauch detailreich in Tagebüchern festhielt, mit ihr tat, daran hat sie keine Erinnerung. „Ich habe große Angst, mich an etwas zu erinnern“, sagt die junge Mutter, die Sorge hat, dass ihrem Kind ähnliches zustoßen könnte. „Ich kann nicht ausstehen, dass meinem Kind etwas passiert“, sagt sie und bricht in Tränen aus. „Ich sehe überall das Böse.“

Unsensibles Vorgehen der Polizei

Wie etliche Betroffene beklagt die Frau das Vorgehen der Polizei, die die oft unwissenden Opfer meist bei einer Vorladung auf die Wache darüber in Kenntnis setzte, was ihnen in der Kindheit widerfahren ist. Dies sei traumatisierend gewesen, es habe keine Begleitung gegeben, so die Frau.

Ins Rollen gebracht hatte die Ermittlungen 2017 die Anzeige einer Nachbarin, deren sechsjährige Tochter der Arzt im Garten missbrauchte. Bei Durchsuchungen stießen die Fahnder auf rund 300.000 kinderpornografische Fotos und die Tagebücher und begaben sich auf die Suche nach den Opfern, die der Chirurg während jahrzehntelanger Arbeit in ländlichen Kliniken in Westfrankreich traf. Serienweise wurden die Betroffenen auf die örtlichen Wachen vorgeladen – offenbar mangelte es dabei an Sensibilität.

„Ich brach heulend zusammen“, heißt es in einer vor Gericht verlesenen Erklärung einer Frau, der auf der Gendarmerie unvermittelt erklärt wurde, dass sie als Kind Opfer einer Vergewaltigung geworden sei. „Ich habe ein Loch im Herz“, beschreibt die Frau, die eine Therapie absolvierte, ihren Gemütszustand. Und sie nimmt in ihrer Erklärung auch den Angeklagten ins Visier. „Städte, Dörfer, Regionen sind zu Opfern geworden wegen ihm, einem Psychopathen. Wir müssen unser Leben lang die Folgen tragen.“

Betroffene tragen Folgen für das Leben

„Ich habe noch einen langen psychologischen Weg vor mir, um das zu überwinden“, sagt eine 34-Jährige aus, die 2001 für die ambulante Entfernung eines Muttermals in die Klinik kam. Auf dem OP-Tisch betastete der Arzt sie unsittlich. Dass das ein Missbrauch ist, begriff die damals Zehnjährige nicht, „ich dachte er überprüft etwas“. Aber ihr Körper reagierte dennoch, die Folgen waren massiv. Sie entwickelte eine krankhafte Angst vor Blut und Infektionen, muss sich ständig die Hände waschen und duscht täglich mehrfach. „In der Schule wurde ich stigmatisiert wegen des Händewaschens.“

Über dem bislang wohl größten Missbrauchsprozess in Frankreich lastet die Frage, weshalb das Tun des Mediziners, der sich laut seines Tagebuches manchmal binnen Stunden an mehreren Opfern verging, keinem in den Kliniken auffiel. „Wie hat Doktor Scouarnec 30 Jahre lang praktizieren können, wie hat man ihn seinen Gang gehen lassen können, wieso hat das niemand gewusst“, ereifert sich eine 36-Jährige vor Gericht. „Das regt mich auf.“ Der Chirurg soll seine Opfer mit den Händen penetriert und seine Handlungen oft als medizinische Untersuchung kaschiert haben, heißt es in der Anklageschrift.

Angeklagter: Ich konnte mir das erlauben

„Was haben Ihre Kollegen gesehen und warum haben sie nicht reagiert“, will die Richterin von dem Angeklagten wissen, der bei einem Teil der Taten wohl nicht alleine mit den Opfern war. „Es gab die Wahrscheinlichkeit, dass das als medizinische Geste gesehen wurde“, meint der Mediziner. „Ich konnte mir nicht sicher sein. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass ich mir das erlauben konnte.“ Mit seiner herausgehobenen Position als Chirurg habe das nichts zu tun gehabt. „Die anderen hätten reagieren können, das hätte Folgen gehabt.“

Zwar wurde der Chirurg schon 2005 wegen des Besitzes kinderpornografischer Bilder zu einer Bewährungsstrafe verurteilt und einzelne seiner Kollegen schalteten deshalb auch die Gesundheitsbehörden ein. Am Ende aber gab es keinerlei disziplinarische Konsequenzen für den Chirurgen, der damals zu einer anderen Klinik wechselte.

Umfassendes Geständnis

Zu Prozessauftakt legte der unscheinbar wirkende Rentner ein umfassendes Geständnis ab. „Ich muss die Verantwortung für meine Taten tragen und die Konsequenzen für die Opfer, die sie ihr Leben lang haben werden“, sagte er. Und in vorgestanzten, immer gleich dahin gesprochenen Sätzen gesteht er auch nach jedem erörterten Einzelfall seine Schuld, an das Opfer gewandt, oft ergänzt um den Hinweis: „Ich erinnere mich nicht an Sie.“ Eine der betroffenen Frauen reagiert darauf empört. „Wieso erinnern Sie sich nicht mehr an die Gesichter, an die Taten?“ Der Angeklagte meint: „Ein Patient unter Narkose ist ein Organ, kein Mensch.“

Schockierende und verstörende Aussagen sowie perverse Schilderungen aus den Tagebüchern machen das Verfolgen des Prozesses schwer erträglich. Die Grenze des Verkraftbaren wurde offenbar auch bei der Polizei überschritten. Die leitende Ermittlerin, die den Fall in seiner kompletten Tragweite aufdeckte, ist seit drei Jahren krankgeschrieben. Ihre Befragung vor Gericht musste nach rund zehn Minuten abgebrochen werden, wie der Sender Europe1 berichtete.

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Der Prozess, für den in der Provinzstadt Vannes eigens Gebäude in der Nähe des Gerichts hergerichtet wurden, läuft noch bis Juni. Dem pensionierten Arzt drohen bis zu 20 Jahre Haft. „Ich habe Mitleid mit ihm, er wird sein Leben im Gefängnis beenden, mit all den Taten auf dem Gewissen“, sagt ein als Kind missbrauchter Mann aus, ehe er sich direkt an den Angeklagten wendet, ganz als wolle er ihn auf das Jüngste Gericht vorbereiten: „Das Schlimmste für Sie wird nicht die Strafe sein, all die Jahre im Gefängnis, sondern das, was nach dem Tod kommt. Darauf sind Sie nicht vorbereitet.“

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