Der „Freedom Day“ wurde im ganzen Land ausgiebig gefeiert.
  • Der „Freedom Day“ wurde im ganzen Land ausgiebig gefeiert.
  • Foto: picture alliance/dpa/PA Wire | Ioannis Alexopoulos

„Auf Messers Schneide“: Corona-Lage im Land des „Freedom Day“ spitzt sich zu

Rund drei Monate ist es her, dass Großbritannien den „Freedom Day“ feierte. Damals wurden alle Corona-Regeln offiziell abgeschafft. Seitdem läuft die Debatte: Braucht auch Deutschland so einen Tag? Tatsächlich spitzt sich im Vereinigten Königreich die Lage gerade ziemlich zu. Also doch kein gutes Beispiel?

Sollte es auch in Deutschland einen „Freedom Day“ nach britischem Vorbild geben? Darüber wird derzeit viel diskutiert – befeuert auch von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Der hatte die Überlegung geäußert, die sogenannte epidemische Lage nationaler Tragweite im November auslaufen zu lassen. Damit könnten die Bundesländer künftig selbst entscheiden, wie sie mit Maßnahmen wie Masken- und Abstandspflicht, 3G und 2G umgehen. 57 Prozent der Deutschen würden das laut einer repräsentativen Yougov-Befragung befürworten.

Experten warnen vor „Freedom Day“ in Deutschland

Zwar will Spahn den Vorstoß nicht als „Freedom Day“ verstanden wissen, Mediziner warnen trotzdem davor. Der Düsseldorfer Infektiologe Tom Lüdde etwa sagte zur „Kölnischen Rundschau“, es gebe noch Millionen von Ungeimpften, darunter drei bis vier Millionen Menschen mit Risikofaktoren für einen schweren Verlauf.


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Durch saisonale Effekte in Herbst und Winter begünstigt, könne eine rasch ablaufende Covid-19-Welle zu zahlreichen Toten führen und die Krankenhäuser erneut an ihre Grenzen bringen. Laut Lüdde sei es schlicht zu früh, Covid-19 „freien Lauf“ zu lassen.

Großbritannien: Corona-Lage im Land des „Freedom Day“ spitzt sich zu

Das merkt auch Großbritannien: Das Land verzeichnete zuletzt knapp 50.000 Fälle täglich, die Sieben-Tage-Inzidenz lag bei 435, die Zahl der Todesfälle stieg mit 223 auf den höchsten Wert seit März. Jeden Tag kommen fast 1000 Menschen in Großbritannien neu ins Krankenhaus – wegen Corona. „Wir stehen auf Messers Schneide – und es ist Mitte Oktober. Wir bräuchten riesiges Glück, um uns in den nächsten drei Monaten nicht in einer ernsthaften Krise wiederzufinden“, sagte Matthew Taylor, Chef des Mitgliederverbands National Health Service Confederation, dem „Guardian“ zufolge.

Unmittelbar nach dem „Freedom Day“ war eine Inzidenz-Explosion in Großbritannien zwar zunächst ausgeblieben. Nun aber steigen die Zahlen aber schon seit Wochen kontinuierlich. Grund für den Anstieg sind Experten zufolge neben den aufgegebenen Eindämmungsmaßnahmen weiter die hochansteckende Delta-Variante sowie die Tatsache, dass immer noch nicht alle Impfberechtigten (ausreichend) immunisiert sind. Besonders bei Jugendlichen und älteren Menschen, die eine Auffrischungsimpfung erhalten sollen, stockt das britische Impfprogramm derzeit.

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Taylor und andere Experten fordern nun, dass die Regierung umgehend „Plan B“ in Kraft setzt. Der sieht eine Wiedereinführung der Maskenpflicht in Innenräumen sowie den Ratschlag, von zu Hause zu arbeiten, vor. Außerdem könnten Impfnachweise bei größeren Veranstaltungen eingeführt werden. Laut dem bislang verfolgten „Plan A“ verlässt sich das Land lediglich auf die Wirkung der Impfungen. Knapp 79 Prozent der britischen Impfberechtigten ab zwölf Jahren sind vollständig immunisiert.

Großbritannien: Kommt ein neuer Lockdown?

Laut Taylor ist aber selbst „Plan B“ noch nicht ausreichend: Die Bürgerinnen und Bürger sollten über die „Plan B“-Maßnahmen hinaus aufgerufen werden, riskantes Verhalten im Blick auf Corona möglichst zu vermeiden, fordern er und andere Experten. Manch einer brachte sogar bereits einen neuerlichen Lockdown ins Spiel.

Den schloss Wirtschaftsminister Kwasi Kwarteng am Mittwochmorgen bei Sky News aus. Die Regierung sei bislang auch nicht der Meinung, dass es „Zeit für Plan B“ sei, fügte er im BBC-Interview hinzu.

Am Abend sagte dann Gesundheitsminister Sajid Javid, alle Briten seien aufgefordert, sich impfen zu lassen, sich an das ausgewiesene Testregime zu halten und sich sofort zu isolieren, wenn sie positiv getestet wurden. Gleichzeitig warnte er, die Zahl der täglichen Neuinfektionen könne schon bald auf bis zu 100.000 steigen. Aber auch Javid verneinte Fragen danach, ob ein neuer Lockdown im Winter möglich sei. Sein Ministerium habe Notfallmaßnahmen bereit, falls die Situation „herausfordernder“ wird, aber, „an diesem Punkt sind wir noch nicht“, so Javid.

Mediziner reagieren entsetzt auf Weigerung der britischen Regierung

Die Weigerung der Regierung, einzelne Corona-Regeln wieder einzuführen, hat am Donnerstag weitere bestürzte Reaktionen hervorgerufen – zum Beispiel vom britischen Ärzteverband British Medical Association (BMA). „Es ist bewusst fahrlässig von der Regierung in Westminster, keine Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionen zu ergreifen wie das verpflichtende Maskentragen, Abstand halten und Lüften in Umgebungen mit hohem Risiko, vor allem beengten Innenräumen“, sagte der BMA-Vorsitzende Chaand Nagpaul einer Mitteilung zufolge.

Die Regierung habe versprochen, einen Plan B zu ergreifen, wenn der Nationale Gesundheitsdienst in Gefahr sei, überwältigt zu werden, so Nagpaul weiter. „Als Ärzte, die in erster Reihe stehen, können wir absolut sagen, dass dieser Punkt jetzt erreicht ist.“

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