Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) behauptet, die Polen und Balten hätten sie vom großen diplomatischen Wurf abgehalten.

Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) behauptet, die Polen und Balten hätten sie vom großen diplomatischen Wurf abgehalten. Foto: picture alliance / dpa/Stefan Sauer

Polen und Balten trifft Mitschuld am Krieg? Merkels außenpolitischer Offenbarungseid

kommentar icon
arrow down

Angela Merkel (CDU) promotet gerade ihre Autobiografie mit dem Titel „Freiheit“. In Viktor Orbáns autoritärem Ungarn gab sie deshalb nun ein Interview, das leider einem Offenbarungseid gleichkommt. Die Ex-Kanzlerin ist unfähig, ihre Russland-Politik zu hinterfragen, und macht aus Opfern Täter.

In einem Gespräch mit dem ungarischen Portal „Partizán“ sprach Merkel über die Zeit vor der russischen Vollinvasion in der Ukraine, also über das Jahr 2021. Sie habe damals gespürt, dass das Minsker Abkommen „nicht mehr ernst genommen wurde“, sagte sie. Minsk I und II waren der Versuch vor allem Deutschlands und Frankreichs, die Kämpfe im Donbas diplomatisch zu beenden. Deshalb wollte sie ein direktes Gesprächsformat der EU mit Russland. Allerdings seien die Polen und die Balten damals gegen ein solches Vorhaben gewesen. Diese hätten gefürchtet, dass die EU keine einheitliche Linie gegenüber Russland findet (die gibt es bis heute nicht!). Ihr Standpunkt wäre gewesen, „dann müssen wir daran arbeiten“.

Merkel hat ihre eigene Politik bis heute nicht verstanden

Der dabei mitschwingende Vorwurf, die Polen und Balten hätten den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit provoziert, ist an Niedertracht kaum zu überbieten. Sie hat mehrere Ebenen ihrer eigenen Politik erkennbar bis heute nicht verstanden.

Erstens: Wenn Merkel selbst sagt, auch der Aggressor Wladimir Putin habe das Minsker Abkommen nicht mehr ernst genommen – wie kommt sie auf die Idee, dass ein weiteres diplomatisches Format irgendwie den Krieg verhindert hätte? Das grenzt an Wahnvorstellungen. Putin hat die Ukraine nicht angegriffen, weil es nicht genügend diplomatische Bemühungen gegeben hätte, ihn zu besänftigen. Sondern weil er bis heute den Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts nicht verkraftet hat und diesen als „größte geostrategische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet, die er gerne rückgängig machen würde.

Merkel hat Putins Risikobereitschaft sträflich unterschätzt

Zweitens: Merkel hat nicht verstanden, dass sich Putins Russland mit wirtschaftlichen Anreizen, Sanktionen und Gesprächen von nichts abhalten lässt. Eine Diktatur wie in Russland folgt nicht den gleichen rationalen Interessenabwägungen wie eine Demokratie. Putin hat Russland mit seinem Angriffskrieg absehbar massiv geschadet – und trotzdem hat er ihn begonnen. Ein Machthaber wie Putin kann viel risikoreicher und skrupelloser vorgehen, als dies ein demokratischer Regierungschef jemals könnte. Merkel hat dies sträflich naiv unterschätzt.

Drittens: Merkel übersieht ihren eigenen Anteil an der Vollinvasion Russlands. Unter ihrer Verantwortung hat sich Deutschland – aus Putins Sicht das Schlüsselland in Europa – nicht zuletzt über die Nord-Stream-Pipeline noch abhängiger von Russland gemacht. Es waren die Polen, die Balten, aber auch die Franzosen, die Briten und Donald Trump, die die deutsche Kanzlerin damals eindringlich gewarnt haben: Wenn ihr euch komplett von russischem Gas abhängig macht, wird ein großer Krieg in Europa wahrscheinlicher. Die Kritiker haben Recht behalten. Eigentlich wäre es nicht so schwer zu erkennen gewesen: Putin hatte in Merkels Amtszeit bereits einen Krieg gegen Georgien geführt, die Wahlen in den USA massiv beeinflusst, die Krim besetzt und Soldaten in den ukrainischen Donbass geschickt.

Das könnte Sie auch interessieren: Selenskyj: Putins Drohnen und Raketen fliegen mit Bauteilen aus Europa

Statt auch nur ein Stück Selbstkritik erkennen zu lassen, bezichtigt Merkel ausgerechnet diejenigen Länder, sie am großen diplomatischen Wurf gehindert zu haben, die schon immer einen deutlich realistischeren Blick auf Putin hatten als sie selbst. Das ist einer Ex-Kanzlerin ziemlich unwürdig.

Share on facebook
Share on twitter
Share on whatsapp
test