Der deutsche Sozialstaat muss dringend reformiert werden.

Der deutsche Sozialstaat muss dringend reformiert werden. Foto: picture alliance / CHROMORANGE | Michael Bihlmayer

Marode Sozialsysteme: Diese Tabus könnten bei Reformen fallen

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Das Ziel ist klar, der Weg dorthin liegt aber noch im Halbdunkeln: Die Bundesregierung hat einen „Herbst der Reformen“ bei Rente, Pflege, Gesundheit und Bürgergeld ausgerufen. Kanzler Friedrich Merz (CDU) will beweisen, dass die demokratischen Parteien der Mitte noch zu Reformen fähig sind – ohne den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den sozialen Frieden zu gefährden. Doch es wird immer klarer: Ohne gewisse Zumutungen lassen sich die Sozialsysteme nicht zukunftsfest machen.

Merz schwor die Deutschen bei der Generaldebatte im Bundestag auf „tiefgreifende Reformen“ ein. Es müsse einen „neuen Konsens über Gerechtigkeit“ geben, erklärte er. Junge Menschen dürften „nicht zusätzlich belastet werden, nur weil sie in der Unterzahl sind“, erklärte er mit Blick auf die steigenden Sozialabgaben für die Finanzierung des Sozialstaats. Auch Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD), die Merz‘ Forderung, beim Bürgergeld Milliarden einzusparen ursprünglich noch als „Bullshit“ abgetan hatte, klingt inzwischen anders: „Nur, wer sich auf die soziale Sicherheit verlassen kann, ist bereit für Reformen“, erklärte sie. Es müsse gerecht zugehen, Lebensleistung müsse sich lohnen. Gerechtigkeit habe aber zwei Seiten: Auf der einen diejenigen, die Unterstützung bräuchten. Auf der anderen Seite diejenigen, die diese Unterstützung mit ihrer täglichen Arbeit finanzieren. Beide Seiten müssten mitgenommen werden.

Klarheit gibt es wohl erst später

Was dies nun konkret bedeutet, lässt sich oft nur erahnen: Denn die Große Koalition hat zunächst Kommissionen eingerichtet, die zeitnahe Vorschläge erarbeiten werden, wie es bei Rente, Bürgergeld, Pflege- und Krankenversicherung weitergehen soll. Es ist klar, dass dabei auch bisherige Tabus fallen könnten:

Bürgergeld:

Merz glaubt, beim Bürgergeld fünf Milliarden Euro pro Jahr einsparen zu können. Dazu will er „Totalverweigerern“ Leistungen komplett kürzen, was verfassungsrechtlich allerdings scheitern dürfte. Realistischer ist es, das „Schonvermögen“ der Leistungsbezieher zu verringern – also den Teil des Vermögens eines Beziehers von Sozialleistungen, den dieser nicht anzugreifen braucht. Außerdem könnten Leistungen wie Mietzahlungen zukünftig nur noch als Pauschalen gezahlt werden – was Bürgergeldempfänger womöglich zum Umzug zwingt. Außerdem könnten Leistungen zusammengelegt werden, was Verwaltungsausgaben sparen soll.

Rente:

Hier ist das Finanzierungsproblem besonders groß. Bereits heute fließt ein Viertel des Bundeshaushalts in die Rentenkasse, um Löcher zu stopfen. Mit der Vollendung der „Mütterrente“ der CSU und dem Festschreiben des Rentenniveaus auf 48 Prozent bis 2031 verschärft sich die Situation weiter. Die nun beschlossene „Aktiv-Rente“ (steuervergünstigtes Weiterarbeiten) wird das Problem nicht lösen. Die Wirtschaftsweisen schlagen deshalb einen (weiteren) moderaten Anstieg des Renteneintrittsalters sowie den Ausbau der privaten Vorsorge vor. In Berlin wird aber auch die Rücknahme der Mütterrente und die „Rente mit 63“ diskutiert: Wer 45 Jahre Beiträge gezahlt hat, darf diese in Anspruch nehmen. Dazu zählen bisher auch Jahre, in denen man arbeitslos war. Künftig könnten nur noch Arbeitsjahre zählen.

Gesundheit:

Trotz Rekord-Anstiegen bei den Beiträgen werden den Krankenkassen auch im kommenden Jahr mindestens vier Milliarden Euro fehlen. Merz hat als ein zentrales Problem die häufigen Arztbesuche der Deutschen ausgemacht. Mit im Schnitt zehn Arztbesuchen pro Kopf und Jahr erreiche Deutschland einen „einsamen europäischen Rekord“, so der Kanzler. Um das für die Kassen teure „Ärzte-Hopping“ zu unterbinden, soll das so genannte Primärarztmodell eingeführt werden: Patienten sollen künftig immer zuerst den Hausarzt aufsuchen – und nicht mehr direkt zum Facharzt gehen dürfen. Um die Zahl der Arztbesuche einzudämmen, schlägt CDU-Gesundheitspolitiker Hendrik Streeck zudem eine „moderate, sozialverträgliche Selbstbeteiligung“ bei Arztbesuchen vor – also eine Art Praxisgebühr 2.0. Ob die SPD da mitmacht? Offen.

Pflege:

Auch die Pflegeversicherung ist unterfinanziert. Ohne Reformen steigen die Beträge bereits 2026 um bis zu 0,2 Prozent. In der Union wird diskutiert, den so genannten Entlastungsbetrag für Haushaltshilfen in der Pflegestufe 1 abzuschaffen. Zudem wird eine Karenzzeit diskutiert: Im ersten Jahr sollen Pflegebedürftige noch keine Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung erhalten. Beides würde die Pflegeversicherung allerdings massiv entwerten. Diskutiert wird auch eine verpflichtende Zusatzversicherung.

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Es zeichnet sich also bereits ab, dass die Reform der Sozialsysteme mit einigen „Grausamkeiten“ verbunden sein wird. Die Alternative zu einem vorsichtigen „Abspecken“ des Sozialstaates ist allerdings nichts zu tun – und so zu riskieren, dass das soziale Netz irgendwann wegen Finanzierungsproblemen ganz reißt.

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