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  • Gustavo Gatica wurde bei einer Demonstration in Chile von der Polizei ins Gesicht geschossen – seitdem ist er blind. 
  • Foto: © Edgard Garrido

Haft, Mord, Verstümmelung: Wie Sie Menschen in Not helfen können – nur mit einem Brief

Berlin/London –

Sie kämpfen für Menschenrechte, Gleichberechtigung oder die Umwelt – und werden dafür bedroht, verletzt, getötet oder eingesperrt. Die Machthaber und Menschen, die hinter diesen Übergriffen stecken, halten sich oft für unantastbar oder denken, sie handeln im Verborgenen. Doch das ist ein Irrtum. Der „Briefmarathon 2020“ soll für Sichtbarkeit sorgen – und die Welt ein bisschen besser machen.

32 Jahre Haft, weil er Menschenrechte verteidigt hat. Folter und Isolation, weil sie für Frauenrechte kämpfte. Blind, weil ein Polizist während einer Demo auf ihn schoss. Das sind nur drei von zehn Schicksalen aus zehn Ländern, die die Organisation Amnesty International in den Fokus ihrer Kampagne „Briefmarathon“ gestellt hat. Die Idee: Mit ganz besonderer Post für mehr Gerechtigkeit und Freiheit sorgen – abgeschickt von Tausenden Menschen in 170 Ländern der Welt. 

Amnesty International: Ein Brief für die Freiheit

Zu den Menschen im Mittelpunkt der diesjährigen Kampagne gehört unter anderem der afrikanische Menschenrechtsaktivist Germain Rukuki.

Germain Rukuki (C) privat

Germain Rukuki verbüßt eine Gefängnisstrafe von 32 Jahren, weil er sich für Menschenrechte in Burundi einsetzte.

Foto:

© Private

Rukuki sitzt seit 2017 in Haft, seinen jüngsten Sohn hat er daher noch nie gesehen. Er arbeitete für die christliche Anti-Folter-Organisation ACAT-Burundi, bevor diese 2016 von den Behörden verboten wurde. 2018 wurde er zu 32 Jahren Gefängnis verurteilt – ohne, dass er oder ein Rechtsbeistand anwesend waren.

Erblindet, gefoltert, inhaftiert: Sie zahlen einen hohen Preis für ihr Engagement

Auch Nassima al-Sada sitzt seit 2018 im Gefängnis – weil sie sich viele Jahre für Frauen in Saudi-Arabien eingesetzt hat. Sie forderte, dass Frauen Auto fahren und alltägliche Angelegenheiten ohne die Erlaubnis eines männlichen „Vormunds“ regeln dürfen. Während al-Sadas Protest immer friedlich war, wurde sie im Gefängnis gefoltert. Zusätzlich sperrte man sie für ein Jahr in eine gesonderte Zelle ein, ohne Kontakt zu anderen Häftlingen.

Nassima al-Sadah (C) privat

Nassima al-Sada sitzt im Gefängnis in Saudi-Arabien, weil sie sich dafür eingesetzt hat, dass Frauen in dem Land frei leben dürfen.

Foto:

© Private

Gustavo Gatica hingegen erblindete, weil er für soziale Gerechtigkeit in Chile auf die Straße ging. Die Demonstrationen von Millionen Chilenen sorgten weltweit für Aufmerksamkeit – auch wegen der heftigen Ausschreitungen und Gewaltanwendungen. In Santiago schoss die Polizei gummiummantelte Schrotkugeln auf Kopfhöhe in die Menge der Demonstranten. Gatica wurde in beide Augen getroffen – er wird nie wieder sehen können.

Amnesty: Sichtbarkeit für Betroffene schaffen

Nun brauchen diese Menschen die Unterstützung von anderen. Doch wie können Briefe und E-Mails dabei helfen? „Die Grundidee von Amnesty, und auch eins der Erfolgsgeheimnisse, ist der Gedanke, dass Menschenrechtsverletzungen häufig hinter verschlossenen Türen stattfinden“, so die Leiterin des Projekts Sabine Wessels.

Wenn für die betroffenen Menschen dann etwa eine halbe Million Briefe, Emails oder Social-Media-Nachrichten eintreffen, führe das bei den Regierungen und Behörden dazu, dass sie irgendeine Art von Fall anlegen müssen, erklärt Wessels. 

Flut an Briefe stört den routinierten Ablauf in den Ländern

Ein Vorgang, der die typischen Abläufe vor Ort bereits störe: „Dieser Vorgang nervt natürlich. Es nervt ja schon, diese hohe Zahl an Briefen aufmachen, die irgendwie angucken und abheften zu müssen.“ Doch damit nicht genug: Bei diesen Mengen an Zuschriften müssen sich die Verantwortlichen fragen, was das wohl für eine Person ist, die sie da festhalten, bedrohen oder quälen lassen.

Und: Sie müssen feststellen, dass enorm viele Menschen weltweit von den Geschehnissen im eigenen Land wissen und dagegen protestieren. Wessels erklärt: „Man kann das als staatliche Einrichtung nicht komplett unter den Tisch fallen lassen. Und die Verantwortlichen sind unter Umständen auch beeindruckt, dass ihre Vorgehensweise draußen mehr Widerstand findet, als sie sich das vorstellen und wünschen.“

Idee entstand durch Aktivisten, der eine Frau beeindrucken wollte

Die simple Idee des Projekts, die jedoch enorme Auswirkungen hat, entstand im Jahr 2001 in Polen. „Es war so, dass ein junger Amnesty-Aktivist wohl die Idee hatte – und die hatte er, weil er eine junge Frau beeindrucken wollte“, erzählt Wessels. Die beiden jungen Leute hätten dann zusammen eine erste 24-Stunden-Aktion entwickelt, angelehnt an eine ähnliche Aktion, die es zuvor in Afrika gegeben hatte.

Die ursprüngliche Idee sah vor, dass so viele Polen wie möglich 24 Stunden lang Briefe für bestimmte, gefährdete Personen schreiben – um auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Damit war der Startschuss gesetzt und es dauerte nicht lange, bis die Idee die Landesgrenzen verließ und zu einer weltweiten Kampagne wurde.

Amnesty arbeitet mit weltweitem Netzwerk

Dass unsere Welt täglich von Kriegen erschüttert und von Menschenrechtsverletzungen und Konflikten geprägt wird, ist kein Geheimnis. Dennoch ist es schlicht nicht möglich – und wohl auch nicht verkraftbar -, alle Gräueltaten auf der Welt mitzubekommen, alle Autokraten und Diktatoren sowie ihre Schergen im Blick zu behalten. Amnesty International, die ihren Hauptsitz in London hat, arbeitet daher das ganze Jahr über in einem weltweiten Netzwerk mit Menschen vor Ort zusammen.

Dazu gehören Mitarbeiter, die die Menschenrechtslage in bestimmten Ländern recherchieren, die Presse vor Ort, Rechtsanwälte und Menschen aus dem Umfeld der Betroffenen. So soll sichergestellt werden, dass nichts vertuscht, niemand gequält oder getötet wird und man sich weltweit an die  Menschenrechte hält. 

Mit Briefen kann große Veränderung erreicht werden

Aktionen wie der Briefmarathon rücken Einzelschicksale in die breite Öffentlichkeit. Und das Größte sei, so Wessels weiter, wenn bei Amnesty schließlich Briefe von den Betroffenen selbst ankommen – nachdem sie tatsächlich freigekommen sind oder ihr Fall untersucht wird, der vorher straflos geblieben wäre. Denn es zeige sich in diesen Momenten immer wieder: Die Briefaktionen funktionieren.

Wessels berichtet von einem Fall vor ein zwei Jahren, in dem es um Behindertenrechte in einem Land der ehemaligen russischen Föderation ging. Eine betroffene Aktivistin vor Ort hatte keine Chance, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen – dank des Briefmarathons wurden entsprechende Regelungen zur Teilnahme in das neue Gesetz mit aufgenommen.

Ein anderes Beispiel für die enorme Wirkmacht der Briefe ist das Schicksal von Moses Akatugba aus Nigeria: 2005 wurde der damals 16-Jährige festgenommen, gefoltert und zum Tode verurteilt. Der Grund: Angeblich habe er drei Handys gestohlen. 800.000 Briefe erreichten ihn dank des Briefmarathons – 2015 kam er nach zehn Jahren Todestrakt wieder auf freien Fuß. Und bestätigt: „Dank dieser Briefe lebe ich noch.“

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