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Bergkarabach: Darum ist der Waffenstillstand eine Katastrophe für viele Armenier

Stepanakert/Jerewan –

„Ihr nennt es 20 Prozent Territorium, das ihr dazubekommt, wir nennen es Heimat und Identität, die wir verlieren.“ Wochenlang haben Armenien und Aserbaidschan um Bergkarabach gekämpft – jetzt gibt es einen Waffenstillstand. Warum dieser für die meisten Armenier eine Katastrophe ist, erzählt Maria, deren Familie aus dem Land kommt.

Über sechs Wochen lang hatte es schwere Kämpfe in Bergkarabach gegeben – eine autonome Region innerhalb Aserbaidschans, in der hauptsächlich Armenier leben und um deren Zugehörigkeit bereits seit vielen Jahrzehnten immer wieder schwere Konflikte zwischen den beiden Ländern aufflammen. Bereits drei Anläufe hatte es für einen Waffenstillstand gegeben, alle scheiterten.

Waffenstillstandsvertrag in Bergkarabach: Darum sind die Armenier so entsetzt

Jetzt trat Russland, das sich als Schutzmacht Armeniens sieht, als Vermittler auf und drängte das Land zum Unterzeichnen eines Friedensvertrages, der für die meisten Armenier einer Kapitulation gleichkommt: Denn sie bestätigen damit die Abtretung eines Großteils Bergkarabachs an Aserbaidschan, während russische Grenztruppen die Kontrolle über die Transportverbindungen zwischen Armenien und Karabach übernehmen.

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Die in den verlorenen Gebieten lebenden Armenier fühlen sich jetzt gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, wie Maria Torosyan berichtet. Die 18-Jährige wurde zwar in Deutschland geboren, beide Eltern stammen jedoch aus Armenien und ein Großteil ihrer Familie lebt dort. „Die Armenier in Bergkarabach wollen auf keinen Fall unter aserbaidschanischer Führung leben. Sie fühlen sich an das Jahr 1918 erinnert, in dem Armenier schon einmal aus der Region vertrieben wurden und es zu einem brutalen Völkermord kam. Deshalb fliehen sie jetzt aus der Region“, erzählte sie im Gespräch mit der MOPO.

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Maria Torosyans Gedanken sind bei ihrer Familie in Armenien und in Bergkarabach. Von dort fliehen jetzt zahlreiche Menschen vor den Aserbaidschanern.

Foto:

Torosyan

Armenier fliehen aus Bergkarabach: „Sie zünden ihre Häuser an“

Viele Armenier würden vor die Flucht ihre Häuser anzünden, um sie unbrauchbar für die Aserbaidschaner zu machen, berichtet Maria. Besonders entsetzt ist sie über den Verlust eines großen Teils ihrer Kultur: „In den verlorenen Gebieten stehen viele Denkmäler und Kirchen, deren Geschichte teilweise tausend Jahre in die Vergangenheit reicht. Die Armenier sind Christen, die Aserbaidschaner Muslime. Ich mag mir nicht vorstellen, was jetzt mit unseren Kulturdenkmälern passiert.“

Marias Großeltern, Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins berichten von einer aufgeheizten Stimmung in Armenien. Die Meinungen über die Unterzeichnung des Friedensvertrages durch Regierungschef Nikol Paschinjan gehen aber auseinander: Während die einen ihn als Verräter sehen und seine Absetzung fordern, sind die anderen der Meinung: Er hatte keine andere Wahl.

Waffenstillstand in Bergkarabach gleicht Kapitulation der Armenier

Auch Maria sieht das so. „Paschinjan soll bleiben. Er hat nur versucht zu retten, was zu retten ist – nämlich unsere Soldaten in Bergkarabach. Es sind bereits über tausend von ihnen gestorben und die Übrigen waren völlig in der Unterzahl. Es hätte nur noch weitere Tode gegeben, die man hätte verhindern können.“

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Die 18-Jährige erzählt Erlebnisse aus den Familien der Soldaten: „Die Nachbarn meiner Großeltern mussten bei einem DNA-Test mitmachen, um herauszufinden, ob ein in Bergkarabach gefundener Arm zu ihrem Sohn gehört. Das tat er laut dem Test tatsächlich. Sie beerdigten den Arm. Wenige Tage später kam dann der Anruf des Sohnes, der seinen Arm im Kampf verloren hatte, glücklicherweise aber nur im Koma gelegen hatte und noch lebte.“

Armenier befürchten Zerstörung ihrer Kultur in Bergkarabach

Vor dem Hintergrund solcher dramatischer Vorfälle könne Maria dem Regierungschef keine Vorwürfe machen. Wohl aber der EU und Deutschland: „Sie haben die ganze Zeit über nichts gemacht, um den Konflikt zu beenden. Stattdessen schicken sie Geld und Waffen an die Türkei, die Aserbaidschan in diesem Konflikt unterstützt.“

Auch wenn Maria in Deutschland lebt, sind ihre Gedanken bei den Armeniern. Ständig müsse sie daran denken, wie sie noch vor zwei Jahren bei einem Besuch in Bergkarabach vor berühmten Denkmälern und Kirchen gestanden habe – in einem Gebiet, das von nun an von den Feinden kontrolliert werde.

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