Armenier in Angst vor Genozid: Konflikt um Bergkarabach spitzt sich immer weiter zu
Stepanakert –
Eigentlich hatten sich Armenien und Aserbaidschan darauf geeinigt, vorerst keine zivilen Ziele mehr anzugreifen. Die Kämpfe in Bergkarabach gehen aber unvermindert weiter. Menschenrechtsorganisationen und westliche Politiker werfen Aserbaidschan und der verbündeten Türkei vor, Streubomben einzusetzen und warnen vor einem Völkermord.
Seit 27. September dauert der Konflikt nun an. Und trotz mehrfacher Friedensverhandlungen, unterstützt von der OSZE, hören die Kriegshandlungen nicht auf. Erst am Samstag meldeten armenische Behörden einen Beschuss in der Haupstadt Bergkarabachs, Stepanakert, und der Stadt Schuschi. Das Bittere: In Stepanakert seien ein Markt und ein Wohnhaus angegriffen, in Schuschi Bewohner verletzt worden, hieß es. Am vorangegangenen Mittwoch soll ein Krankenhaus bombardiert worden sein.
Russland könnte in den Konflikt eingreifen
Der armenische Regierungschef Nikol Paschinjan bat nun den russischen Präsidenten Wladimir Putin um Hilfe. Russland hat in Armenien eine Militärbasis. Ein Vertrag regelt, in welchen Fällen Moskau seinen Verbündeten bei einer Bedrohung unterstützt.
Das Außenministerium in Moskau erklärte, Russland werde vertragsgemäß „alle notwendige Hilfe leisten“, sollten sich die Kämpfe auf armenisches Gebiet verlagern.
Aserbaidschans Präsident Ilham Aliyev sagte der ARD, er erwarte nicht, dass sich „ein drittes Land“ einmische. Womit er Russland meinte, die er wie alle benachbarten Länder als „Partner und Freunde“ bezeichnete. Tatsächlich liefert Russland Waffen an beide Konfliktparteien. Auch Israel und die Türkei beliefern Aserbaidschan mit Waffen.
Armenien wolle dagegen gern weitere Länder hineinziehen, sagte Aliyev: „Es ist ein Kampf zwischen uns und Armenien, und alle anderen sollten sich heraushalten.“
Türken solidarisieren sich offen mit Aserbaidschan
Interessant in diesem Zusammenhang: Immer wieder solidarisieren sich Türken offen mit Aserbaidschan und sprechen von „einer Nation, zwei Staaten“. So auch Fußballer Mesut Özil. Er postete kürzlich ein Statement auf Twitter, in dem er unter anderem erklärte: „Aserbaidschans Leid ist unser Leid, seine Freude ist unsere Freude“. Weiter hieß es: Bergkarabach sei als Teil Aserbaidschans anerkannt, aber derzeit „illegal besetzt“. Zwar rief Özil auch zum Frieden in der Region auf, schrieb jedoch unter das Statement erneut: „Eine Nation, zwei Staaten“.
Von armenischer Seite wurde zudem berichtet, es seien „Terroristen“ aus dem Nahen Osten in die Kampfhandlungen verwickelt. Beobachter sprechen von Söldnern aus Syrien, die vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, dem engsten Verbündeten Aserbaidschans, geschickt worden seien.
Drei Anläufe für Waffenruhen – alle gescheitert
In den vergangenen Wochen gab es bereits drei Anläufe für eine Waffenruhe: zwei unter der Vermittlung Russlands und eine nach Gesprächen der Außenminister beider Länder mit der US-Regierung. Alle Vereinbarungen wurden kurz danach gebrochen. Die Minsk-Gruppe der OSZE rief erneut zum Waffenstillstand auf.
Menschenrechtsorganisationen wie „Human Rights Watch“ oder „Genocide Watch“ warfen indes erneut Aserbaidschan vor, illegale Streubomben einzusetzen. Die Zahl der bisherigen Todesopfer schwankt, je nach Angaben, zwischen 1200 und 5000 Menschen seit Beginn des Konflikts vor vier Wochen. Armenien befürchtet, erneut Opfer eines Völkermords zu werden. „Genocide Watch“ stuft die Wahrscheinlichkeit, dass an den Armeniern ein Genozid verübt werden soll, mittlerweile als sehr hoch ein.
Politiker Martin Sonneborn: „Schaulaufen moderner Vernichtungstechnik“
Der Europapolitiker und Ex-Satiriker Martin Sonneborn (Die Partei) ging sogar noch weiter. Er befindet sich gerade vor Ort und sprach vom „verstörendsten Schaulaufen moderner Vernichtungstechnik, das bisher zu sehen war.“ Er machte dafür neben Aserbaidschan vor allem Erdogan verantwortlich, der türkische Soldaten und Kampfflieger einsetze.
Aserbaidschan beschuldigte unterdessen Armenien, die aserbaidschanische Region Terter mit Artillerie beschossen zu haben. Außerdem sei ein Dorf unter Beschuss geraten. Es habe dabei aber keine Opfer gegeben. Zugleich wies das Ministerium in der Hauptstadt Baku die Anschuldigungen Armeniens zurück, Phosphormunition eingesetzt zu haben. Die Armee verfüge nicht über Waffen und Munition, die laut internationalem Recht ohnehin verboten seien, hieß es.
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Aliyev wies zudem in dem ARD-Interview Berichte von Menschenrechtsaktivisten zurück, dass Streumunition eingesetzt worden sei. „Wir benutzen solche Waffen nicht. Wir verteidigen uns.“ (km/mik/dpa)