Korn statt Schampus: Westerland wird zum Ballermann
Korn statt Schampus. Antifa-Shirts statt Steppjacke: Party-Touristen strömten am Pfingstwochenende mit dem 9-Euro-Ticket nach Sylt. Und machten Westerland zum Ballermann. Nur ein Vorgeschmack auf den Sommer? Was die MOPO-Reporter in der Bahn und auf der Insel erlebten.
Ich hatte Schlimmes erwartet. Drängelnde Menschen an überfüllten Bahnsteigen, Reisende, die aus dem Zug wieder aussteigen müssen. Und nun sitzen (!) wir, der MOPO-Fotograf und ich, Pfingstsonntag im Regionalzug nach Westerland. Sogar Fahrräder dürfen noch mitgenommen werden. Doch ganz so entspannt wird die Fahrt dann doch nicht.
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Korn statt Schampus. Antifa-Shirts statt Steppjacke: Party-Touristen strömten am Pfingstwochenende mit dem 9-Euro-Ticket nach Sylt. Und machten Westerland zum Ballermann. Nur ein Vorgeschmack auf den Sommer? Was die MOPO-Reporter in der Bahn und auf der Insel erlebten.
Ich hatte Schlimmes erwartet. Drängelnde Menschen an überfüllten Bahnsteigen, Reisende, die aus dem Zug wieder aussteigen müssen. Und nun sitzen (!) wir, der MOPO-Fotograf und ich, Pfingstsonntag im Regionalzug nach Westerland. Sogar Fahrräder dürfen noch mitgenommen werden.
Doch ganz so entspannt wird die Fahrt dann doch nicht: Der Zug fährt mit 20 Minuten Verspätung los, die Zug-Toilette ist verstopft, die Hände sind gerade eingeseift und dann kommt kein Wasser aus dem Hahn. Die feiernden Partymassen bleiben aber vorerst aus.
Betrunkene baden ihre Kampfhunde im Sylter Wahrzeichen
Die Fahrkartenkontrolleurin ist trotzdem genervt: „Das ist der pure Stress mit dem 9-Euro-Ticket“, erzählt sie uns. Seit Mittwoch ist das aber ihr erster Tag auf der Strecke Hamburg-Westerland. Und das Publikum sei nun ein völlig anderes.
„Es fahren mehr Partygänger mit und mehr Obdachlose, die ihren ganzen Hausstand im Bollerwagen dabeihaben“, sagt sie. „Sie fahren mit blauen Säcken voller Leergut von der Insel zurück.“

Auf dem Bahnhofsplatz in Westerland schläft die erste Schnapsleiche ihren Rausch aus. Einem der „Reisenden Riesen“, den großen grünen Sylter Skulpturen, hat jemand einen Anus-Sticker auf den Allerwertesten geklebt. Im Brunnen der „Dicken Wilhelmine“, einem Wahrzeichen von Westerland, baden Betrunkene ihre Kampfhunde.
In der Fußgängerzone in der Friedrichstraße haben sich Punks eingerichtet. In ihrem Campingkocher sammeln sie Geld. Abends brutzeln sie darin „vegane Bratkartoffeln oder Nudeln mit Paprika und Zwiebeln.“ Gegenüber, bei „Gosch“, trinken Damen in Steppjacken Schampus zur Edelfisch-Pfanne.
Aus der Restmüll-Tonne riecht es nach Erbrochenem
Oben an der Promenade spielt eine Live-Band in der Konzertmuschel, vor allem Rentner klatschen und tanzen zu Songs wie „Movie Star“. Unten am Westerländer Strand dröhnt Musik aus ‚zig verschiedenen Boxen. Elektro, Schlager, Scooter. Aus der Restmüll-Tonne riecht es nach Erbrochenem. Jugendliche grölen. „Halt die Schnauze!“ „Wo isn das Kooooks?“
An die Promenadenmauer hat jemand „Punkrock Asozial“ gesprüht. Betrunkene schlafen mit bedenklich roten Köpfen in der knallenden Sonne. Hasch-Geruch liegt in der Luft. Junggesellenabschiede zerren Bollerwagen mit Schnaps über den Sand. Ein Hauch von Ballermann, mitten im feinen Westerland.

Tim (24) kniet im Sand und trinkt Fanta-Korn-Jägermeister aus dem Trichter. Der Altenpfleger ist mit seinen Kumpels aus dem Landkreis Harburg angereist. „Endlich mal richtig geiler Urlaub! Ohne 9-Euro-Ticket wäre uns die Fahrt nach Sylt zu teuer gewesen“, sagt sein Freund Julian (20), Kulturwissenschafts-Student. Wo sie schlafen? „Gar nicht.“
Ein Mitarbeiter des Sylter Tourismus Service kommt vorbei, bittet die Jungs, die Musik leiser zu machen. Ob es hier sehr stressig ist, frage ich ihn. Kein Kommentar.
Ein Rettungsschwimmer weckt einen Betrunkenen – Lebendkontrolle sozusagen
Sehr gesprächig sind dagegen Max Reh und seine Reisegruppe. Elf Stunden sind sie Zug gefahren, um von Trier nach Sylt zu kommen. Freitagmittag los, Pfingstmontag zurück. Das lohnt sich doch kaum?! „Manchmal ist die Reise das Ziel“, sagt der 25-jährige Schreiner. „Wir hatten ja schon im Zug unsere Musik an und haben mitgesungen. Vier Liter Korn mit Eistee pro Person und drei Paletten Apfelwein haben wir dabei, das haben wir alles in unseren Rücksäcken transportiert.“

Ein DLRG-Rettungsschwimmer weckt einen Betrunkenen am Strand – Lebendkontrolle sozusagen. Zwischen all dem Treiben buddeln Eltern mit Kindern im Sand und essen Reiswaffeln auf Picknickdecken. Rentner lesen in Strandkörben die „Brigitte“ und Ken Follett. So richtig scheint sich hier niemand an den Party-Touristen zu stören. „Ich finde es schön, dass hier so viele junge Leute Musik machen. Solange sie friedlich sind, ist doch alles ok“, sagt Helga (78) aus Wolfsburg, die mit ihrem Mann mindestens ein Mal im Jahr nach Sylt fährt. Ich kann sie kaum verstehen, so laut dröhnt von nebenan „Scheißeeeee!“ aus den Boxen. „Ich geh‘ pissen!“, grölt jemand. Aber Helga bleibt entspannt: „Das Meeresrauschen hört man ja auch noch ein bisschen“, sagt sie und lacht.
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Das Chaos kam mit Ansage. Als Insulaner Bedenken äußerten, dass sie dem Ansturm durch das 9-Euro-Ticket nicht gewappnet seien, war das ein gefundenes Fressen für die sozialen Medien. Sie machten in Windeseile daraus: „Schickimicki-Sylt möchte nicht, dass der Pöbel auf die Insel kommt!“ Linke Gruppen riefen dazu auf, mit dem 9-Euro-Ticket Sylt zu „entern“. Viele Punks kündigten für den Sommer „Chaos-Tage“ an.
Und nun, über Pfingsten, sind die ersten schon da. 150 Punks zählte die Polizei auf Sylt. Es habe Gespräche mit ihnen gegeben, sie hätten sich „im Rahmen“ benommen. Die Gerüchteküche auf der Insel sagt etwas anderes. „Samstagabend ist es am Brunnen bei der Wilhelmine eskaliert“, sagt Maria Prenzlow (25), Verkäuferin am Strand-Kiosk. „Da haben Punks alles vollgekotzt und sich gekloppt. Die wurden dann wohl auch von der Polizei der Insel verwiesen und mussten abreisen.“

„Ich habe Sorge, dass die Langzeitgäste wegbleiben“
Und die gebürtige Sylterin Celina Adamowicz (20) erzählt: „Ich habe Porsche gesehen, die mit Edding beschmiert wurden. Gestern war ich bei McDonald’s, da war der ganze Boden überschwemmt, weil jemand das Klo ruiniert oder verstopft hatte. Und bei der Wilhelmine sollen die Punks hingekotet, sich dort die Haare rasiert und im Brunnen gebadet haben. Sie sollen ja alle ihren Spaß haben, aber sowas geht einfach nicht.“

Und auch wenn die „Syltokalypse“ am Pfingstwochenende noch ausblieb, so groß ist die Angst unter den Syltern vor dem Sommer: „In den Sommerferien kommen dann auch noch die ganzen jugendlichen Trittbrettfahrer dazu und machen Party am Strand“, erzählt uns die Verkäuferin aus einem Sylter Traditionsgeschäft. „Ich habe Sorge, dass die Langzeitgäste nicht wiederkommen. Die stören sich schon an den Punks. Der Strand ist dreckig und stinkt. Und das Pendeln wird für unsere Mitarbeiter in den vollen Zügen fast unmöglich.“
Bevor wir zurückfahren, essen wir noch ein Fischbrötchen am Strand. Mit Blick aufs Meer, kreischende Möwen und brüllende Feiernde. Und ja, für einen Tag ist das ganz gute Unterhaltung. Erholsamer Sylt-Urlaub ist das nicht. Zumindest nicht in Westerland.