Neue Details: Hätte die Bluttat im Regional-Express verhindert werden können?
Ibrahim A. (33) soll auf zahlreiche Zugreisende eingestochen, zwei dabei getötet und mindestens fünf verletzt haben. Am Donnerstag, einen Tag nach der grausamen Tat in Brokstedt, sind neue Informationen über den Fall und den Mann bekanntgeworden. Unter anderem war der 33-Jährige in Hamburg bereits in Haft – wegen eines Messerdelikts. Die MOPO beantwortet alle Fragen.
Ibrahim A. (33) soll auf zahlreiche Zugreisende eingestochen, zwei dabei getötet und mindestens fünf verletzt haben. Einen Tag nach der grausamen Tat in Brokstedt sind neue Informationen über den Fall und den Mann bekanntgeworden. Unter anderem war der 33-Jährige in Hamburg bereits in Haft – wegen eines Messerdelikts. Die MOPO beantwortet alle Fragen.
Was ist passiert?
Um kurz vor 15 Uhr soll Ibrahim A. auf mehrere Fahrgäste im Regionalzug von Kiel nach Hamburg losgegangen sein. Eine 17-Jährige und ihr Freund (19) wurden dabei getötet. A. wird am Bahnhof Brokstedt von Polizisten festgenommen; zuvor hatten ihn Reisende überwältigt.
Man gehe derzeit von sechs leicht bis schwer verletzten Menschen aus, darunter der mutmaßliche Täter selbst. Drei Menschen seien noch im Krankenhaus, zwei davon wurden operiert. Zwei weitere Reisende seien bereits wieder entlassen worden.
Wer ist der Beschuldigte?
Ibrahim A. gilt offiziell als staatenlos. Es ist unklar, von wo genau er einreiste. Er kam laut Angaben der Behörden im Dezember 2014 in Deutschland an, lebte zunächst mehrere Jahre in Euskirchen (Nordrhein-Westfalen), wo er nur wenige Monate nach seiner Ankunft bereits mit Straftaten auffiel. Dabei ging es um Bedrohung, Körperverletzung, Sachbeschädigung und Diebstahl.
Im Juli 2021 meldet er sich bei der Kieler Ausländerbehörde. Die Überprüfung seiner Akte ergab dabei Aufschluss über die bis dahin von ihm begangenen Straftaten. Die Stadt Kiel habe – in solchen Fällen üblich – das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) über A. in Kenntnis gesetzt, wie Stadtrat Christian Zierau sagte. Den letzten Kontakt mit A. habe es im November gegeben.

Davor war er in Schleswig-Holstein in zwei Einsätze verwickelt: Einmal ging es um Ladendiebstahl, in dem anderen Fall um Belästigung. In der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge soll er andere Mitbewohner verbal und physisch angegangen sein. Die Folge: Hausverbot. Kurz darauf sei er laut Zierau in Richtung Hamburg abgewandert. In Kiel war er für die Behörden nicht mehr auffindbar. Offiziell war er nirgendwo mehr gemeldet und somit wohnungslos.
Hat der Mann in Hamburg Straftaten begangen?
A. soll am 18. Januar 2022 in der Schlange einer Essensausgabe für Wohnungslose an der Norderstraße (Hammerbrook) mit einem Messer mehrfach auf einen Mann eingestochen haben. Als ausschlaggebend für seine Tat nannte er den Konsum verschiedener Drogen, darunter Kokain, Heroin und Alkohol. Das Opfer erlitt potenziell lebensgefährliche Verletzungen, wie ein Gerichtssprecher bestätigte. Verletzt wurde der Mann am Arm, am Hals und an der Hand.
Seit dem 20. Januar 2022 habe A. den weiteren Angaben zufolge in U-Haft gesessen, zuletzt in der Hamburger JVA Billwerder. Er wurde wegen gefährlicher Körperverletzung und Diebstahl zu einem Jahr und einer Woche verurteilt – ohne Bewährung. Der Beschuldigte ging in Berufung, das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.
Am 19. Januar – sechs Tage vor der Tat in Brokstedt – wurde A. freigelassen, weil die Dauer seines Aufenthalts in U-Haft dem vom Gericht verhängten Strafmaß nah kam. Eine Richterin entschied daher, den 33-Jährigen freizulassen. Ein weiter andauernder Aufenthalt in Haft sei laut Gerichtssprecher als „unverhältnismäßig“ bewertet worden.
Hätte die Strafe in Hamburg nicht höher ausfallen müssen?
Das Strafrecht sieht bei derartigen Delikten einen Strafrahmen von sechs Monaten bis zehn Jahren vor. Dabei spielt auch eine Rolle, wie sich der Beschuldigte auf die Vorwürfe einlässt, auch Gutachten von Sachverständigen können entscheidend sein. Fakt ist: Das Gericht und die Staatsanwaltschaft sahen das Urteil als angemessen an.
Dass es bisher noch nicht zur erneuten Verhandlung kam, liegt laut Gerichtssprecher an Nachermittlungen, die seitens des Landgerichts veranlasst worden sind. „Und wegen der terminlichen Verfügbarkeit der hinzuzuziehenden Sachverständigen war absehbar, dass ein Termin zur Berufungshauptverhandlung nicht möglich sein würde.“

Dennis Thering, Chef der Hamburger CDU, übt deutliche Kritik an der Justiz: „Viele Fragen stehen im Raum, insbesondere die Hamburger Justiz und die zuständige Senatorin Gallina müssen sich, nach allem was wir bisher wissen, fragen lassen, ob der bisherige Umgang mit dem mutmaßlichen Täter tatsächlich angemessen war.“
Er moniert die in seinen Augen zu geringe Strafe und glaubt, dass die Tat möglicherweise hätte verhindert werden können. Thering: „Wir erwarten dazu jetzt umfassende Aufklärung von Justizsenatorin Gallina und beantragen eine Selbstbefassung im nächsten Justizausschuss.“
Anna Gallina (Grüne) versprach, dass man seinen Beitrag leisten werde, damit „diese schreckliche Tat aufgeklärt wird“. Alle betroffenen Behörden der verschiedenen Bundesländer seien mit der gründlichen Sachverhaltsklärung beschäftigt und im engen Austausch, sagte sie der MOPO.
Wie hat sich A. in Haft angestellt?
Ibrahim A. wurde laut Angaben der Justizbehörde durchgängig während seiner Haftzeit in Hamburg psychiatrisch betreut. Man habe Auffälligkeiten bei ihm festgestellt, außerdem sei er in zwei Vorfälle verwickelt gewesen, bestätigt Sprecher Dennis Sulzmann der MOPO. Ein kurz vor seiner Entlassung erstelltes psychiatrisches Gutachten kam aber zu dem Entschluss, dass von A. weder eine Gefahr für sich selbst noch für andere ausgeht. Sulzmann: „Es gab daher keine belastbaren Anhaltspunkte dafür, eine rechtliche Betreuung zu beantragen oder den Sozialpsychiatrischen Dienst einzuschalten.“
Was ist das Motiv der Tat in Brokstedt?
„Wir schließen nichts aus, wir ermitteln in alle Richtungen“, so der Leitende Oberstaatsanwalt von Itzehoe, Carsten Ohlrogge. Ein terrorristischer Hintergrund werde zwar nicht ausgeschlossen, bisher aber gebe es darauf aber keine Hinweise. „Normalerweise hat man Hinweise auf derartige Bezüge. Hier ist das nicht der Fall.“ Auch, ob die Tat lange geplant war oder im Affekt verübt wurde, sei unklar.
„Auch ich habe viele Fragen“, so Sabine Sütterlin-Waack (CDU), Innenministerin Schleswig-Holsteins. Sie hoffe nun, dass die Auswertung und Befragung aller Zeugen zu neuen Erkenntnissen führten.
A. soll am Tag der Tat gegen 10 Uhr – ohne Termin – den Infopoint der Kieler Ausländerbehörde aufgesucht und eine Aufenthaltskarte beantragt haben. Es sei laut Stadtrat Zierau das erste Lebenszeichen des Mannes nach einem Jahr gewesen. Dort wurde er an das Einwohnermeldeamt verwiesen, bei dem er nie auftauchte.
A. soll keinen auffälligen Eindruck hinterlassen haben. Das Gespräch sei ruhig verlaufen. Zierau: „Er sprach von Schlafgelegenheiten in Hamburg.“ Dann habe er das Gebäude wieder verlassen – und stieg vermutlich kurz darauf in den Regionalzug.
Hätte er abgeschoben werden müssen?
Ibrahim A. hielt sich legal in Deutschland auf. Bei seiner Einreise 2014 stellte er einen Asylantrag. Laut Angaben des Kieler Integrationsministeriums galt er als nicht ausreisepflichtig. Wie der Stand des an das BAMF weitergegebene Verfahren bezüglich einer Abschiebung ist, war am Donnerstag unbekannt. Sütterlin-Waack verwies auf das BAMF; man habe bereits einen Bericht über den Fortgang des sogenannten Rücknahmeverfahrens angefordert, sagte sie.
Eine zentrale Frage bleibt jedoch: Und zwar die, wohin der Mann im Zweifel abgeschoben werden könnte. Auf diese Frage wussten weder das Innenministerium noch die Stadträte eine Antwort. Allgemein gelten Abschiebungen in den Gaza-Streifen – von dort soll der Mann mutmaßlich herstammen – als schwierig.
Galt Ibrahim A. als Intensivtäter?
Nein, nicht für die Behörden in Schleswig-Holstein. Oberstaatsanwaltschaft Ohlrogge verweist darauf, dass A. in dem nördlichsten Bundesland noch nicht verurteilt wurde. Kenntnis darüber, dass der 33-Jährige in Hamburg aus der Haft entlassen wurde, habe die Behörde auch nicht bekommen. Das sei normal, so Ohlrogge, es gebe dafür keine Verpflichtungen.
Wie geht es weiter?
Am Donnerstag wurde gegen den 33-Jährigen Haftbefehl erlassen. Der Vorwurf: zweifacher heimtückischer Mord und versuchter Totschlag in vier Fällen. Noch dauern die Ermittlungen der Polizei und Staatsanwaltschaft in dem Fall an.