Mir vertrauen Menschen ihr Leben an
Biografien von berühmten Persönlichkeiten stehen in vielen Bücherregalen. Aber auch „normale“ Menschen lassen ihre Lebensgeschichte von professionellen Schreibern verfassen, etwa von Susanne Hinrichs. Was ist die Motivation ihrer Auftraggeber?
Biografien von berühmten Persönlichkeiten stehen in vielen Bücherregalen. Aber auch „normale“ Menschen lassen ihre Lebensgeschichte von professionellen Schreibern verfassen, etwa von Susanne Hinrichs. Was ist die Motivation ihrer Auftraggeber?
Ilse und Wolf-Rüdiger Baerwinkel haben vor sich auf dem Tisch ein Fotoalbum liegen. Das Ehepaar schaut sich eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme an: Ilse als junge Frau ist darauf zu sehen, vor sich eine Schreibmaschine, daneben eine Kollegin. Ilse hat als Sekretärin auf einer Werft gearbeitet. Die 81-Jährige deutet mit einem Finger auf das Bild: „Die Frau gibt mir Anweisungen, ich war ja die Neue.“ In den vergangenen Monaten hat das Ehepaar häufig in alten Alben geschaut und sich erinnert – zusammen mit Susanne Hinrichs. Die 53-Jährige schreibt die Biografie des Ehepaares aus Bassum (Landkreis Diepholz). Nicht, weil die Beiden berühmt wären, sondern weil sie dafür bezahlen.

Susanne Hinrichs ist Biografin. „Jedes Leben ist es wert, erzählt zu werden“, heißt es auf der Homepage von Hinrichs, die seit zwei Jahren diesen Service anbietet. Früher war sie Kuratorin für zeitgenössische Kunst, hat für internationale Museen gearbeitet und Künstlerbiografien geschrieben. Dann tauschte sie mit ihrem Mann das Stadtleben mit dem auf dem Land, in der Nähe der Baerwinkels. „Ich habe die Kunst geliebt, aber war dann satt von ihr“, erzählt sie.
Sie wurde Trauerrednerin. Dabei habe sie gemerkt, dass sie die Lebensgeschichten mag, die die Hinterbliebenen erzählten. „Ich wollte tiefer eintauchen.“ Jemand fragte sie schließlich, ob sie seine Biografie schreiben könne. „Dann kam der nächste und wieder der nächste“, sagt Hinrichs. Es sind die Geschichten von Bauern, Friseurmeistern, Angestellten bei der Stadtverwaltung und Hausfrauen, die sie aufschreibt. „Das Spannende ist, wie sich deren Alltag verändert hat. Manche sind noch mit Pferdewagen durch die Gegend gefahren.“
Mit Biografien bleiben die Geschichten erhalten
Bei Ehepaar Baerwinkel war es Tochter Maren Müller, die die Idee zur Biografie hatte. „Mein Papa hat gesagt, wir sind ganz normale Menschen, wen interessiert das denn“, erzählt Müller. Aber die Enkel hätten bereits nach der Lebensgeschichte der Großeltern gefragt. „So bleibt sie erhalten“, sagt die 56-Jährige. Die Biografie soll zum 60. Hochzeitstag ihrer Eltern fertig sein: Jedes der vier Kinder, zwölf Enkel und sieben Urenkel bekommen ein gedrucktes Exemplar. Das Buch wird sogar ins Englische übersetzt, da ein Teil der Familie in Kanada lebt.

Sieben Mal traf sich Susanne Hinrichs mit den Baerwinkels, tauschte sich zusätzlich mit Tochter Maren aus. „Es war auch manchmal traurig“, berichtet die Biografin. Wolf-Rüdiger Baerwinkel habe eine schwere Kindheit im Zweiten Weltkrieg gehabt. „Aber wir haben auch viel gelacht“, sagt Hinrichs. Als Erinnerungsstütze dienten nicht nur Stapel an Fotoalben, sondern auch eine in der Scheune entdeckte, eingestaubte Kiste mit Haushaltsbüchern aus den Jahren 1963 bis 1980, die Ilse Baerwinkel akkurat geführt hatte. „Das war ein richtiger Schatz“, sagt Hinrichs. „Daraus habe ich viel gezogen.“
Ghostwriter schrieben früher nur Prominente
Die meiste Arbeit passiert am Schreibtisch: Die Gesprächsaufnahmen müssen transkribiert, die Ereignisse sortiert und strukturiert sowie in den zeitgeschichtlichen Kontext gestellt werden. „Niemand erzählt linear“, sagt Hinrichs. „Die Kindheitserinnerungen aus dem Krieg habe ich viermal umgeschrieben, bis sie in alle Richtungen stimmten.“
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Die Berliner Literaturwissenschaftlerin Katrin Rohnstock kennt das, sie schreibt seit fast 25 Jahren Biografien. „Als ich begann, die Lebensgeschichten von ganz normalen Leuten aufzuschreiben, gab es noch kein solches Angebot – Ghostwriter schrieben nur für Prominente oder Politiker.“ Die Nachfrage sei von Anfang an groß gewesen. „Das typische Alter von Auftraggebern ist 80, da ist das Ende des Lebens in Sicht. Viele fragen sich, was von ihnen bleibt und was sie weitergeben wollen.“ Ihr Team besteht inzwischen aus zehn Autorinnen und Autoren.
Vor allem in Krisenzeiten sei das Bedürfnis der Rekapitulation groß, sagt Rohnstock. Das könnten persönliche Lebenskrisen ebenso sein wie unsichere Zeiten. „Bei der Finanzkrise 2008 haben wir gespürt, dass es plötzlich ein starkes Bewusstsein gab, die eigene Biografie festzuhalten.“ In diesem Jahr mit dem Ukrainekrieg sei die Nachfrage noch nicht gestiegen. Aber Rohnstock rechnet damit, dass dies zeitverzögert passiert.
Eine Biografie kostet mindestens 10.000 Euro
Als Biografin seien neben einem ausgeprägten Einfühlungsvermögen geschichtliches Wissen und dramaturgische Fähigkeiten gefragt. „Man muss der Lebensgeschichte eine Struktur geben, damit sie lesbar ist.“ Ein Jahr dauere es im Durchschnitt, bis ihre Auftraggeber ihre Biografie in den Händen halten können. Das Ganze hat seinen Preis: Bei Rohnstock geht es ab 10.000 Euro los.
Auch bei Susanne Hinrichs kostet eine Biografie mehrere Tausend Euro. Nicht jeder sei bereit, so viel Geld zu zahlen. Daher bietet sie auch Kurse an für Personen, die selbst ihr Leben aufschreiben wollen. Für die Baerwinkels wäre das nicht infrage gekommen. Aber das Paar wollte keine große Feier zur Diamantenen Hochzeit, dafür war finanzieller Spielraum für die Biografie da. Als Ilse Baerwinkel die erste Fassung in den Händen hielt, habe sie gesagt: „Ach, ist das schön“, erzählt Susanne Hinrichs. Mit einem Leuchten in den Augen habe sie darin gelesen. „Als ich das gesehen habe, ist mir das Herz aufgegangen.“