Klaus-Michael Kühne: Schallende Ohrfeige für Deutschlands zweitreichsten Mann
Der Hamburger Unternehmer Klaus-Michael Kühne (86) – nach Lidl-Gründer Dieter Schwarz der zweitreichste Deutsche – muss es wie eine schallende Ohrfeige empfunden haben. Ausgerechnet in unmittelbarer Nähe zur Bremer Zentrale von Kühne + Nagel (K+N) wurde jetzt ein Arisierungs-Mahnmal eingeweiht, das erste seiner Art in Deutschland. Der Standort ist kein Zufall. Die Initiatoren wollen, dass Passanten immer wieder aufs Neue an die unheilvolle Rolle erinnert werden, die unter anderem Klaus-Michael Kühnes Firma in der NS-Zeit spielte.
Der Hamburger Unternehmer Klaus-Michael Kühne (86) – nach Lidl-Gründer Dieter Schwarz der zweitreichste Deutsche – muss es wie eine schallende Ohrfeige empfunden haben. Ausgerechnet in unmittelbarer Nähe zur Bremer Zentrale von Kühne + Nagel (K+N) wurde jetzt ein Arisierungs-Mahnmal eingeweiht, das erste seiner Art in Deutschland. Der Standort ist kein Zufall. Die Initiatoren wollen, dass Passanten immer wieder aufs Neue an die unheilvolle Rolle erinnert werden, die unter anderem Klaus-Michael Kühnes Firma in der NS-Zeit spielte.
Arisierung. Dieser Nazi-Begriff bedeutet: Raub. Die Nazis bereicherten sich skrupellos am Eigentum deportierter und ermordeter Juden. Und sie konnten das tun, weil Unternehmen wie K+N ihnen dabei willig zur Hand gingen. Die Firma – heute einer der Global Player in Sachen Logistik – verdiente am Holocaust, war daran beteiligt, den Hausrat fortzuschaffen, den Juden notgedrungen zurückließen, als sie in die Todeslager geschickt wurden.
In Bremen ist direkt bei der K+N-Zentrale ein Arisierungs-Mahnmal eingeweiht worden
Für das, was Vater Alfred und Onkel Werner Kühne in der NS-Zeit taten, kann Klaus-Michael Kühne nichts. Aber er trägt Verantwortung dafür, wie seine Firma sich heute ihrer Vergangenheit stellt. Während die allermeisten deutschen Konzerne spätestens seit den 90er Jahren bemüht sind, die eigene Verstrickung in die Nazi-Verbrechen von Historikern aufarbeiten zu lassen, lässt Kühne + Nagel einen verantwortungsvollen Umgang mit der Firmengeschichte vermissen. Dazu passt, dass der Firmenpatriarch wie erwartet der Einweihung des Arisierungs-Mahnmals fernblieb.

Ohne den Bremer Journalisten Henning Bleyl (54) würde es das Mahnmal nicht geben. Und ohne Bleyl, früher Redakteur der „taz“, wäre bis heute auch weitgehend unbekannt, welche Rolle K+N in der NS-Zeit spielte. Der Wendepunkt war das Jahr 2015, als das Unternehmen sein 125-jähriges Jubiläum feierte und auf dem Bremer Marktplatz eine Ausstellung der Firmengeschichte präsentierte. Bleyl bemerkte die „riesengroßen Lücken“ und die vielen falschen Behauptungen in Bezug auf die NS-Vergangenheit.

Als er nachfragte, was denn sonst noch so in den 30er Jahren passiert sei, bekam er zur Antwort: Dies habe „keine Relevanz für die Firmengeschichte“. Hartnäckig begab sich Bleyl auf Spurensuche. Und bekam heraus: K+N verdiente nicht nur an der Arisierung. Die Firma arisierte sich sogar selbst.
Mithaber Adolf Maass wurde 1933 aus der Firma gedrängt und später in Auschwitz ermordet
Gemeint ist damit der Fall Adolf Maass. Nach Hitlers Machtübernahme 1933 drängte K+N diesen Mitinhaber skrupellos aus der Firma, weil er Jude war: Anlässlich der Einweihung des Arisierungs-Mahnmals reiste Enkeltochter Barbara Maass aus Montréal an und hielt eine Rede, in der sie die Geschichte ihres Großvaters erzählte: „Der hatte 1901 als Angestellter im Unternehmen angefangen und dann den Auftrag, in Hamburg eine Zweigstelle zu eröffnen, mit so großem Erfolg erledigt, dass Firmengründer August Kühne ihn zum Teilhaber machte. 45 Prozent der Hamburger Dependance gehörten Adolf Maass.“
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Allerdings nur bis 1933. „Eines Tages kamen Vertreter der Handelskammer und drohten, dass es – so lange ein Jude Kühne + Nagel leite – keine staatlichen Aufträge mehr geben werde“, sagte Barbara Maass. „Mein Großvater wollte nicht riskieren, dass seine Angestellten arbeitslos werden, also nahm er seinen Hut.“ Adolf Maass und seiner Frau Käthe gelang es noch, ihren Kindern Gerhart, Herbert und Lisa zur Flucht ins Ausland zu verhelfen. Sich selbst aber konnten sie nicht retten. Das Ehepaar wurde 1942 zunächst ins Ghetto Theresienstadt deportiert und am 15. Mai 1944 ins Vernichtungslager Auschwitz gebracht und dort ermordet.

Aus K+N wurde ein „Nazi-Musterbetrieb“, der am Holocaust ein Vermögen verdiente
Während das Ehepaar Maass in der Gaskammer ein furchtbares Ende fand, klingelte bei K+N dank lukrativer Staatsaufträge die Kasse. Nach Maass‘ Ausscheiden hatten Alfred und Werner Kühne, die beiden Söhne des Firmengründers, freie Hand im Unternehmen, wurden NSDAP-Parteimitglieder und machten aus der Firma einen „nationalsozialistischen Musterbetrieb“. Alfred Kühne, Klaus-Michael Kühnes Vater, kam 1942, dem Jahr, in dem die sogenannte „M-Aktion“ anlief, auf einen Jahresverdienst von 270.000 Reichsmark – eine ungeheure Summe zu jener Zeit.
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„M-Aktion“ – das war das Codewort für den gigantischen Raubzug, den der sogenannte „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ organisierte, eine ursprünglich auf den Raub von Kunst und Kulturgütern spezialisierte NS-Organisation. Bei der „M-Aktion“ ging es um Möbel und den übrigen Hausrat zigtausender Juden. Wann immer in Paris, Amsterdam, Brüssel oder anderswo Juden von der Gestapo verhaftet und ins KZ gesteckt wurden, tauchten gleich darauf Möbelpacker von K+N auf und nahmen alles mit, was von Wert war: Schränke, Sofas, Geschirr, Spiegel, Sessel, Kinderwagen, Betten, Tische und Stühle – das Inventar von insgesamt 250.000 Haushalten.

Er habe beim Lesen der Listen häufiger schlucken müssen, so der Historiker Johannes Beermann, der im Rahmen seiner Doktorarbeit die Geschichte der „M-Aktion“ erforschte. „Die Kinderwagen erinnern daran, dass die Nazis auch jüdische Kinder deportiert und ermordet haben.“
„M-Aktion“: Der Hausrat von 250.000 jüdischen Wohnungen wurde gestohlen
Bis August 1944 wurden allein in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Luxemburg die Einrichtungen von mehr als 70.000 „verlassenen“ jüdischen Wohnungen abtransportiert. Bei sogenannten „Judenauktionen“ etwa im Hamburger Hafen wurden die geraubten Haushaltsgegenstände für kleines Geld an „Volksgenossen“ verhökert. Hunderte Hamburger standen jedes Mal Schlange. Es hatte was von Volksfeststimmung und Schnäppchenjagd. Zeitzeugen erinnern sich, dass anschließend auffallend viele Arbeiterfrauen etwa in Barmbek und auf der Veddel im Pelzmantel herumliefen.

Historiker Frank Bajohr attestiert K+N eine „relative Nähe zum Massenmord“. Den Besitz „völlig wehrlos gemachter Menschen zu transportieren“ sei „eine Form der Leichenfledderei“. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Dreßen räumt zwar ein, dass zwar auch andere Logistikunternehmen an der „M-Aktion“ beteiligt gewesen seien, aber K+N habe sich so erfolgreich gegen alle Mitbewerber durchgesetzt, dass sie am Ende quasi das Monopol gehabt habe. „Die Firma ist somit mitverantwortlich für den Tod von Leuten, sie hat damit Geld verdient.“
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Nach dem Krieg bemühten sich die Kühne-Brüder, ihre Beteiligung an den Verbrechen der Nazis unter den Teppich zu kehren. Auch als Alfred Kühnes Sohn Klaus-Michael 1958 ins Unternehmen eintrat, änderte sich an dieser Haltung nichts. Stellten Journalisten Fragen nach der NS-Vergangenheit, wurden sie entweder gar nicht oder ausweichend beantwortet.

Erst nach den Enthüllungen der „taz“ sah sich der Konzern 2015 gezwungen, eine Erklärung abzugeben. Darin heißt es, dass sich das Unternehmen „der schändlichen Vorkommnisse bewusst“ sei und es „sehr bedauert“, im Auftrag des Nazis-Regimes tätig gewesen zu sein. Doch gleich darauf relativiert die Firma ihre Schuld schon wieder, wenn es heißt: „Wie andere Unternehmen war Kühne + Nagel in die Kriegswirtschaft eingebunden und musste in dunklen und schwierigen Zeiten seine Existenz behaupten.“ Soll heißen: Die Firma habe gar nicht anders handeln können und sei selbst nur Opfer. „Nach einem ehrlichen Bekenntnis zur eigenen Geschichte klingt das nicht“, findet Frank Bajohr.
„Es ist beschämend, wie sich Kühne+Nagel verhält“
Allen Forderungen von Historikern, endlich das Firmenarchiv zu öffnen und aktiv dazu beizutragen, dass die ganze Wahrheit ans Licht kommt, hat K+N bisher eine Absage erteilt: Angeblich seien alle Unterlagen der Kontorhäuser in Hamburg und Bremen 1944 verbrannt. Fachleute bezweifeln das. Denn Tatsache ist, dass K+N aus Sorge vor Luftangriffen bereits 1943 das Zentralkontor erst nach Regensburg, dann nach Konstanz auslagerte. Dieses Material müsste also noch existieren.

Gegenüber der MOPO lässt K+N keinen Zweifel daran: Eine öffentliche Aufarbeitung werde es nicht geben. Alles, was in Zukunft an zusätzlichen Fakten zur Firmengeschichte zusammengetragen werde, diene allein der „firmeninternen Dokumentation“. Aus Sicht von Frank Bajohr ein „völlig unangemessenes“ Verfahren, ein „negativer Sonderweg“. Es sei „mehr als beschämend, dass es Kühne + Nagel bis heute nicht vermocht hat, auch nur die geringste Anstrengung zur Aufarbeitung der eigenen Firmengeschichte zu leisten.“
Ex-Betriebsräte von K+N: „Wenn Klaus-Michael Kühne etwas nicht will, dann will er es nicht“
Ob sich Klaus-Michael Kühnes Einstellung vielleicht irgendwann noch ändert? Zwei Männer, die ihn lange kennen, sind da skeptisch. Die Rede ist von Thomas Sorg (72) und Michael Kalis (72), die Ende der 60er beziehungsweise Anfang der 70er Jahre als Speditionskaufleute bei K+N anfingen und Jahrzehnte lang als Betriebsräte einiges auszustehen hatten mit ihrem Chef. Kühne+Nagel verlegte den Firmensitz in die Schweiz – unter anderem mit dem Ziel, die im Mitbestimmungsgesetz verbrieften Arbeitnehmerrechte auszuhebeln. Sorg und Kalis mussten sich mit dem Firmenpatriarchen, einem erklärten Gegner der Mitbestimmung, erbitterte Kämpfe liefern, bis es ihnen schließlich nach 17 Jahren doch noch gelang, die Bildung eines europäischen Betriebsrats durchzusetzen.

„Das zeigt“, so Thomas Sorg, „wenn Klaus-Michael Kühne etwas nicht will, dann will er es nicht. Punkt.“ Das gelte auch für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Klaus-Michael Kühne werde alles tun, um das Andenken seines Vaters, den er über alle Maßen verehrt habe, zu schützen. In den vergangenen Jahren haben Sorg und Kalis immer wieder versucht, die Geschäftsleitung in Deutschland und die Zentrale in der Schweiz davon zu überzeugen, ihre Widerstände aufzugeben. „Leider bisher ohne Erfolg.“
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Für Henning Bleyl, den Initiator, ist das Arisierungs-Mahnmal bei weitem nicht nur ein „Kühne-Mahnmal“. Denn neben K+N haben auch der Staat, andere Unternehmen und Privatleute von der Arisierung profitiert – bis hin zu den Schnäppchenjägern, die auf den „Judenauktionen“ Beute machten. Ziel des Mahnmals sei es deshalb, „das lange verdrängte Thema gesamtgesellschaftlich bewusster zu machen“.

2016 hatte Bleyl zusammen mit der „taz“ einen Gestaltungswettbewerb für das Mahnmal gestartet und mit Hilfe einer Crowdfunding-Aktion (Motto: „ 4 Qm Wahrheit“) Geld für den Kauf eines Grundstücks eingesammelt. Im selben Jahr stimmte die Bremische Bürgerschaft dem Bau des Mahnmals zu, allerdings kam es danach zu schier endlosen politischen Diskussionen über einen möglichen Standort – bis schließlich im Februar 2022 eine Einigung erzielt wurde.
Das Mahnmal zeigt die Schattenrisse des geraubten Mobiliars
Nun ist es da: Das Mahnmal befindet sich unterhalb der Firmenzentrale von Kühne + Nagel, direkt an den Weserarkaden bei der Wilhelm-Kaisen-Brücke. Wer oben über eine ebenerdige Glasplatte „stolpert“, nimmt zunächst nur einen sechs Meter tiefen, leeren Schacht wahr – Ausdruck einer Geschichtslücke. Geht der Besucher die Treppenstufen nach unten zur Weser, wird ein leerer Raum sichtbar. An dessen Wänden lassen sich unter anderem die Schattenrisse eines Sessels, eines Stuhls und eines Tischs erahnen. Sie stehen symbolisch für das den Juden geraubte Mobiliar.