Zwischen Hamburg und Rumänien: So leben die Pendler-Bettler
Die meisten Hamburger dürften sie zwar schon gesehen, aber doch nicht richtig hingeschaut haben: Rumänen, die hier betteln – und dann plötzlich für Monate verschwinden. Wer sind diese Menschen und stecken wirklich organisierte „Bettelbanden“ dahinter, die ihre Mitglieder ausnehmen? Einige von ihnen haben nun für einen Kinofilm Einblicke in ihr Leben gewährt.
Ein Güterzug rast unter einer Brücke hindurch. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Doch die Menschen, die da neben den Gleisen in dicken Pullis und Wolldecken gehüllt auf alten Matratzen auf dem Boden schlafen, scheint das kaum noch zu stören. Für sie ist der Ort die beste Zuflucht.
Regisseur begleitet rumänische Bettler in Hamburg über fünf Jahre
- Deutsch (Deutschland)
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Die meisten Hamburger dürften sie zwar schon gesehen, aber doch nicht richtig hingeschaut haben: Rumänen, die hier betteln – und dann plötzlich für Monate verschwinden. Wer sind diese Menschen und stecken wirklich organisierte „Bettelbanden“ dahinter, die ihre Mitglieder ausnehmen? Einige von ihnen haben nun für einen Kinofilm Einblicke in ihr Leben gewährt.
Ein Güterzug rast unter einer Brücke hindurch. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Doch die Menschen, die da neben den Gleisen in dicken Pullis und Wolldecken gehüllt auf alten Matratzen auf dem Boden schlafen, scheint das kaum noch zu stören. Für sie ist der Ort die beste Zuflucht.
Regisseur begleitet rumänische Bettler in Hamburg über fünf Jahre
Unter ihnen sind Mariana („Maria“) und Ion („Tirloi“) L. Sie sind Roma aus dem rumänischen Dorf Namaiesti (rund 100 Kilometer östlich von Bukarest), die hier in Hamburg betteln – und Protagonisten des Films „Europa Passage“, der am Mittwoch im Metropolis-Kino Premiere hatte.
Über fünf Jahre hat der Regisseur Andrei Schwartz, der selbst aus Rumänien stammt, dafür eine Gruppe begleitet – und zeigt ein Leben in der Hansestadt, das vielen sonst verborgen bleibt: Den Kampf um die Plätze, an denen sich betteln lohnt. Das Vertriebenwerden von Orten, die zumindest zeitweise zu einem Rückzugsort wurden. Die Suche nach Arbeit und die Angst, sie wieder zu verlieren. Aber auch die Freude an einem schlichten Zimmer mit Bett, Humor, Familie, Heimweh.
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Seit die Beschränkung der Freizügigkeit 2014 auch für Arbeiter aus Rumänien und Bulgarien gefallen ist, pendeln die Ärmsten auch zwischen Hamburg und ihrer Heimat, um hier Arbeit zu suchen oder zu betteln. Fuß fassen aber nur die Wenigsten. Viele von ihnen können nicht nur kein Deutsch, sondern auch nicht Lesen und Schreiben. 13,8 Prozent der Obdachlosen in Hamburg sind Rumänen, das sind 187 Menschen (Stand 2018). Und sie stecken im Teufelskreis: „Ohne Arbeit bekommen sie keine Wohnung, und ohne Wohnung keine Arbeit“, sagt Andrei Schwartz. „Ich habe Hamburg immer als mein Zuhause empfunden, aber so habe ich auch die hässliche Fratze kennengelernt. Vor allem, wie die Sozialbehörde mit ihnen umgeht.“
Abschreckungsstrategie? Schwartz kritisiert Sozialbehörde
Denn die hat seit 2016 ihre Gangart verschärft: Schwartz wirft ihr vor, die Menschen abschrecken zu wollen, indem sie etwa per Platzverweis von ihren Schlafplätzen vertrieben werden. Sie teilweise nicht ins Notprogramm zugelassen werden, weil sie in Rumänien ein Zuhause haben und damit als „freiwillig obdachlos“ gelten, oder aufgefordert werden, Deutschland zu verlassen – nur um kurz danach wieder einzureisen. „Es soll ihnen hier so schwer wie möglich gemacht werden“, vermutet Schwartz. Auch die Linke, die Diakonie und „Hinz&Kunzt“ hatten das Vorgehen kritisiert.
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Die Sozialbehörde weist den Vorwurf einer Abschreckungsstrategie zurück. Nothilfsangebote wie das Winternotprogramm seien den Personen vorbehalten, die sich nicht selbst helfen können, sagte Sprecher Martin Helfrich. „Im Notfall helfen wir selbstverständlich allen Menschen, diejenigen allerdings, die die sozialen Einrichtungen als billige Unterkunft missbrauchen wollen, können wir im Interesse aller Nutzerinnen und Nutzer nicht dulden.” Die Behörde verweist aber auch auf das Beratungsangebot „Social Bridge Hamburg“, das besonders von rumänischen Personen angenommen werde.
Organisiertes Betteln in Hamburg? Nicht in diesem Fall
Ob nun ein Zuhause in Rumänien oder nicht, für Maria und Tirloi gibt es in ihrem Heimatdorf keine Arbeit. Bei Besuchen zeigt Schwartz: Für das Flechten eines Besens bekommt man pro Stück 40 Cent. Die minimale Sozialhilfe reicht nicht. Von den in Hamburg erbettelten 15 bis 20 Euro am Tag können sie dagegen sogar noch Geld an ihre Kinder schicken.
Nebenbei räumt der Film einen häufigen Irrglauben aus: Dass es sich stets um organisiertes Betteln handelt, die Menschen wegen mafiöser Strukturen die Spenden gar nicht selbst behalten. „Ich bin mir sicher, dass es das in dem Dorf nicht gibt“, sagt Schwartz, der selbst mehrfach dort war. „Das bedeutet nicht, dass es das gar nicht geben kann. Dort, wo es Armut gibt, gibt es auch leicht Ausbeutung. Aber in diesem Fall ist es nicht so.“
Der Film „Europa Passage“ ist ab dem 15. September in ausgewählten Kinos zu sehen.