„Wir haben mehr als 70 Kinder“: Der Alltag als „Feuerwehr“-Pflegeeltern
Alkohol, Gewalt, Kriminalität: In manchen Familien ist es für Kinder richtig gefährlich. Wenn das Jugendamt eine akute Notlage feststellt, kommen die Kleinen zu „Bereitschaftspflegeeltern“ – übergangsweise. Gerd und Heike Spiekermann aus Wandsbek haben schon 78 solcher Kinder betreut. Warum das so toll ist und was die Schwierigkeiten sind, haben sie der MOPO erzählt.
Alkohol, Gewalt, Kriminalität: In manchen Familien ist es für Kinder richtig gefährlich. Wenn das Jugendamt eine akute Notlage feststellt, kommen die Kleinen zu „Bereitschaftspflegeeltern“ – übergangsweise. Gerd und Heike Spiekermann aus Wandsbek haben schon 78 solcher Kinder betreut. Nach einer dramatischen Erfahrung entschieden sie sich für diese Aufgabe.
Bei Gerd (70) und Heike Spiekermann (68) ist es immer ein bisschen wuselig. Katze Nummer eins sitzt in der Ecke auf einem Kratzbaum und leckt sich genüsslich die Pfoten, die zweite läuft umher, knabbert an den Tulpen und räkelt sich, während die beiden Hunde jeden Besucher genau unter die Lupe nehmen, der über die kleine Terrasse in das Häuschen kommt. Auf dem Regal steht ein großes Aquarium, auf dem Tisch zwei dampfende Tassen Kaffee.
78 Pflegekinder und vier eigene Kinder
Später wird Gerd Spiekermann das neunjährige Pflegekind Sandy (Name geändert) von der Schule abholen. Sie liebt die Tiere der Spiekermanns, seitdem sie vor acht Wochen zu dem Pärchen kam. „Die Katzen und Hunde sind essentiell für unsere Pflegekinder“, sagt Gerd Spiekermann. „Sie sind Freunde, denen sie ihre Sorgen anvertrauen können.“
Sandys Eltern sind alkoholkrank. Deshalb hat das Jugendamt sie aus der Familie genommen und übergangsweise in eine Pflegefamilie gegeben. Bereitschaftspflege nennt man das: Die Behörden wissen, dass sie Gerd und Heike Spiekermann jederzeit anrufen können, wenn sie ein Kind unterbringen müssen. Wenn diese beispielsweise wegen Gewalt oder Alkohol akut gefährdet sind. „Wir sind wie die Feuerwehr“, so Heike Spiekermann.
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78 Pflegekinder hatte das Ehepaar in den 26 Jahren schon, seitdem es im Hamburger Pflegefachdienst „Pfiff“ registriert ist. Nicht zu vergessen die vier eigenen, die alle schon aus dem Haus sind. „Eigentlich wollten wir sechs Kinder“, sagt die 68-Jährige. „Aber bei der letzten Geburt gab es Komplikationen. Also haben wir nach einer anderen Möglichkeit gesucht und uns als Bereitschaftspflegeeltern gemeldet.“ Heißt, dass sie Kinder immer nur übergangsweise betreuen, bis eine andere Lösung – beispielsweise „Dauer“-Pflegeeltern – gefunden wurde.
Kriminalität, Alkohol, Geburten: Das erleben Pflegeeltern
Dieser Job ist vor allem eines: abwechslungsreich. „Eine Pflegetochter, die im Alter von 16 Jahren mit ihrem Kind zu uns kam, bekam hier noch ihr zweites Kind“, berichtet Gerd Spiekermann. „Es hat sich eine tolle Beziehung entwickelt und wir haben heute noch Kontakt.“ Das ist nicht selbstverständlich: „Wir forcieren keinen weiteren Kontakt, nachdem die Kinder zurück in ihre eigene oder in eine Dauerpflegefamilie gekommen sind. Wenn sie wollen, können sie immer kommen. Aber würden wir den Draht zu allen aufrechterhalten, kämen wir vom Telefon nicht mehr weg.“
Dann war da ein Zehnjähriger, den das Jugendamt von seinem kleinkriminellen Vater weggeholt hatte. Er sollte nach seinem Aufenthalt bei Gerd und Heike Spiekermann ins Internat, doch das wollte er nicht und haute von seinen „Übergangspflegeeltern“ ab. Zehn Tage war er verschwunden, bis die Polizei ihn bei seinem Vater fand. „Die Geschichte hatte ein Happy End: Fünf Jahre später stand er vor unserer Tür und erzählte, dass er gerade seine Mittlere Reife macht. Das ist einer der schönsten Sätze, die man von einem Pflegekind hören kann“, so Gerd Spiekermann.
Die Trennung ist meistens das Schlimmste
Die Pflegekinder sollen höchstens sieben Monate bei Bereitschaftspflegeeltern bleiben. „Ab diesem Zeitpunkt wird die Beziehung richtig eng und das wollen wir vermeiden“, sagt Gerd Spiekermann. „Sonst wird die Trennung für beide Seiten zu hart. Vorher ist es ein Besucherstatus.“ Deshalb sollen die Kinder sie auch nicht mit „Mama“ und „Papa“ rufen.
Im Jahr 2021 gab es bei „Pfiff“ laut eigenen Angaben 130 Anfragen für Bereitschaftspflegeplätze. Demgegenüber stehen 60 Plätze. Bei Gerd und Heike Spiekermann sollen theoretisch zwei Kinder unterkommen – in der Praxis waren es aber auch schon mehr.
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Der Kaffee ist ausgetrunken, Gerd Spiekermann muss los und die kleine Sandy von der Schule abholen. Wie lange die beiden das noch machen wollen? „Höchstens zwei Jahre“, sagt Heike Spiekermann. „Wir werden schließlich nicht jünger. Das wird dann erstmal ungewohnt – schließlich haben wir das jahrelang als unsere Aufgabe betrachtet.“ Wer Kindern ebenfalls in einer schweren Zeit Stabilität geben möchte, kann sich jederzeit bei „Pfiff“ bewerben. Der Bedarf ist in jedem Fall da.