Wie sicher ist der Kiez für Frauen?
Immer häufiger berichten Partygängerinnen von sexuellen Übergriffen rund um die Große Freiheit. Was Bar-Betreiber, Polizei und Betroffene zur Lage an den Wochenenden sagen.
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Es wird gesoffen, gebaggert und gefeiert: Der Hamburger Kiez ist bekannt für seine Zügellosigkeit. In der letzten Zeit gibt es jedoch immer wieder Berichte von sexuellen Übergriffen und versuchten Vergewaltigungen. Können Frauen auf dem Kiez noch gefahrlos feiern? Die MOPO war an einem Freitag vor Ort und hat sich umgehört.
Der süßliche Geruch von Urin, verwesendem Müll und warmem Alkohol liegt in der Luft: Es ist kurz vor Mitternacht und auf dem Hamburger Kiez bringen sich die Feierwütigen in Form. Sie drängeln sich in Pulli und Jeans auf dem Hamburger Berg aneinander vorbei und versuchen, die letzten freien Plätze auf den Bierbänken vor den Bars zu ergattern. Am Hans-Albers-Platz locken hübsche Frauen noch unentschlossene Gäste mit freien Getränken in die Clubs, während der Alkohol- und Lärmpegel auf der Großen Freiheit bereits Ballermann-Niveau hat.
Hier sind die Röcke der Frauen kurz und die falschen Wimpern lang. Männer haben ihre Haare zurück gegelt, das Aftershave setzt die nötige Duftmarke und die kleine Umhängetasche liegt lässig über der breiten Brust. Entnervt schieben sich zwei Freundinnen mit Kippe zwischen den bunten Fingernägeln ihren Weg durch die Menschenmasse. Kumpels packen sich an den Schultern, um einander nicht zu verlieren, ein älteres Paar in Funktionshosen und Karohemden nimmt sich bei der Hand.
Hamburg: Frauen berichten von sexuellen Übergriffen auf dem Kiez
Bislang ist noch alles friedlich, doch genau dieses Gedränge auf der Großen Freiheit wurde Sophie W. (Name von der Redaktion geändert) an einem Samstag Anfang Juli zum Verhängnis. Sie berichtet, dass sie mit Freundinnen gegen 1.15 Uhr auf der Party-Meile unterwegs war. Die Frauen steckten irgendwann in der Menschenmasse fest – während fremde Männer sie überall am Körper anfassten. Ihre Erzählung erinnert an die Silvesternacht 2015: In Städten wie Köln und Hamburg gab es in dieser Nacht schlimme Übergriffe von Männergruppen, sie umzingelten Frauen und fassten ihnen an den Po, die Brüste oder in den Intimbereich.
„Wir haben uns gefühlt, als würden wir durch einen Käfig gedrängt, in dem jeder zugreifen darf“, sagt auch Sophie über ihre traumatischen Erlebnisse vor einigen Wochen. Diese Respektlosigkeit ihr und ihren Freundinnen gegenüber habe sie sehr betroffen und wütend gemacht. Die Frauen erstatteten Anzeige – und sie waren nicht die Einzigen. Allein auf der Großen Freiheit dokumentierte die Polizei an besagtem Wochenende neun Einsätze: Die Beamten rückten wegen Taschendiebstahl, Streit, Ruhestörung, Randale, Personalienüberprüfung, Verkehrsbehinderung, Schlägerei und auch zweimal wegen sexueller Belästigungen aus.
Doch diese Aufzählung kann unvollständig sein, erklärt die Polizei – beispielsweise wenn Einsätze zwar polizeilich wahrgenommen, jedoch nicht der Polizeieinsatzzentrale gemeldet wurden. In der statistischen Auswertung werden zudem nur Einsätze gelistet, die über die zentrale Notrufnummer oder über das zuständige Polizeikommissariat an die Einsatzzentrale gemeldet worden sind, sowie die von Einsatzkräften gemeldeten Selbsteinsätze. Dazu kommt dann noch die Dunkelziffer. Jene Fälle von sexueller Belästigung und anderen Übergriffen auf Frauen also, die keiner mitbekommt, die nicht angezeigt werden.
Bar-Betreiber: Frauen werden oft respektlos behandelt
Die Geschichte von Sophie überrascht Betreiber in Bars und Clubs auf dem Kiez nicht. „Der Respekt vor Frauen ist verloren gegangen“, heißt es auf Nachfrage bei einer Bar. „Frauen werden von hinten und vorne angetanzt, eingeengt und angefasst.“ Mehrfach hätten Türsteher in der letzten Zeit eingreifen müssen, die Polizei sei immer wieder im Einsatz, nehme Spuren auf, sichere Videomaterial.
Vor allem nach dem Wegfall der Corona-Kontaktbeschränkungen hätten sich die Übergriffe extrem gehäuft. Die Männer seien wie wild – baggern, grapschen, bedrängen die Frauen, die sich oft kaum wehren können. Vor allem wer nicht in Hamburg oder einer anderen Großstadt aufgewachsen ist, sei oft naiv im Umgang mit Anzüglichkeiten. Es gehe hier nie um Zuneigung und Sympathie: „Wenn ein fremder Mann dich antanzt, will er nur deinen Arsch – oder dein Geld!“
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Es gibt jedoch auch andere Stimmen: Der Türsteher einer alten Kult-Kneipe hat zwar von den sexuellen Übergriffen gehört – Frauen, die vor Toiletten mit zerrissenen Strumpfhosen oder auf einem Hinterhof gefunden wurden – aus eigener Erfahrung kenne er jedoch keine Fälle, sagt er. Eine Club-Besitzerin bestätigt seine Aussage. Vermehrt Übergriffe auf Frauen? Nein, sagt sie und schüttelt den Kopf. Sie beobachte derzeit nur, dass die jungen Gäste nach zwei Jahren Pandemie das Trinken verlernt hätten: Sie wissen nicht mehr, wieviel sie vertragen.
Auf dem Hamburger Kiez: So können sich Frauen schützen
Christian Fong (54) betreut auf der Großen Freiheit die Nachtclubs Shooters und Dollhouse, sowie die Safari-Bar. Es gebe immer mal wieder Übergriffe auf Frauen, auch durch den Einsatz von K.o.-Tropfen, bestätigt er. Doch Fong hat nicht den Eindruck, dass der Kiez für Frauen gefährlicher geworden ist. Im Gegenteil: Die Türsteher seien heute konsequenter, sagt er, und auch die Polizei achte verstärkt auf alkoholisierte Männergruppen. Er rät den Frauen dennoch, ihr Getränk nicht aus den Augen zu lassen.
Eine Bar-Betreiberin ergänzt seine Tipps: Frauen sollten das Getränk auch nicht abstellen oder sich im Gespräch von dem Glas abwenden. Wer sich einen Drink ausgeben lässt, sollte ihn nur annehmen, wenn er ihn direkt vom Barkeeper bekommt und gesehen hat, wie er geöffnet und eingeschenkt wurde. Wer sich zusätzlich vor Übergriffen schützen will, sollte eine Trillerpfeife einpacken, rät sie. Im Notfall könne man damit auf sich aufmerksam machen.
Reeperbahn: Nie das Getränk aus den Augen lassen
Nicola (23) ist heute mit ihren Freunden auf der Reeperbahn unterwegs. Sie weiß, worauf Frauen beim Feiern achten sollten: „Ich lasse mein Getränk nie aus den Augen“, sagt die Erzieherin aus dem Emsland. „Wir hatten gerade Bier und ich habe die ganze Zeit meine Hand über den Becher gehalten, damit niemand etwas hineinschütten kann.“ Eigentlich habe sie auch immer ein Pfefferspray dabei. Heute jedoch nicht. Sie ist mit männlicher Begleitung auf dem Kiez. „So fühle ich mich sicher“, sagt sie. „Alleine würde ich hier jedoch nicht langgehen.“ Ihrer Freundin Luisa (24) geht es genauso. Sicherheitsmaßnahmen ergreife sie jedoch nie. „Dafür bin ich immer in Begleitung hier“, sagt die Sozialarbeiterin aus Köln.
Und was sagen die Zahlen? Mit Blick auf die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) lässt sich der Eindruck eines Trends hin zu mehr Übergriffen derzeit weder bestätigen noch widerlegen. Die aktuelle PKS bildet nur das Jahr 2021 ab – ein Corona-Jahr. Und für den Kiez gibt es keine gesonderten Zahlen – nur die insgesamt registrierten Straftaten für ganz St. Pauli. Hier zeichnet sich in den vergangenen Jahren ein Rückwärtstrend ab.
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Waren es 2015 insgesamt noch 21.666 Fälle, sind es 2018 nur noch 18.790. In den Jahren der Pandemie, wo der übliche Trubel ausblieb, lagen die Zahlen bei 12.503 (2020) und im vergangenen Jahr bei 8.824 Fällen. Der Einsatz von K.o.-Tropfen habe, nach Einschätzung der zuständigen Ermittlungsdienststellen im Landeskriminalamt, in letzter Zeit nicht zugenommen.
In der Olivia Jones Bar sitzen die Freundinnen Julia und Caroline (beide 26) aus Köln seit einigen Stunden am Tresen, trinken und reden – auch über K.o.-Tropfen. Caroline erzählt, dass sie zwar immer ihr Getränk im Blick habe, auf mehr jedoch nicht achte. „Natürlich kann man in jedem etwas Böses sehen, aber so will ich eigentlich nicht leben.“ Julia geht es auch so, besorgt ist sie nicht. „Ich fühle mich super wohl hier“, sagt die Lehrerin. „In keiner Sekunde hatte ich das Gefühl, dass ich Angst um meine Handtasche haben muss oder irgendwelche K.o.-Tropfen in mein Getränk bekommen würde.“