Wenig Wertschätzung, 90 Stunden-Wochen: Der harte Alltag der Seeleute
Der raubeinige Seebär, der Weltenbummler, der in jedem Hafen zu Hause ist: Über Seeleute gibt es viele Klischees. In einer Hafenstadt wie Hamburg ist die Geschichte der Seefahrt immer noch präsent, häufig mit einem romantisierten Bild des Seemanns. Was heißt es aber wirklich, im Jahr 2023 an Bord von Schiffen zu arbeiten?
Der raubeinige Seebär, der Weltenbummler, der in jedem Hafen zu Hause ist: Über Seeleute gibt es viele Klischees. In einer Hafenstadt wie Hamburg ist die Geschichte der Seefahrt immer noch präsent, häufig mit einem romantisierten Bild des Seemanns. Was heißt es aber wirklich, im Jahr 2023 an Bord von Schiffen zu arbeiten? Pastor Matthias Ristau, seit vergangenem Jahr Generalsekretär der Deutschen Seemannsmission in der Altstadt, spricht im MOPO-Interview über eine Berufsgruppe, ohne die unsere globale Wirtschaft nicht funktionieren würde – und die trotzdem häufig vergessen und wenig wertgeschätzt wird.
MOPO: Herr Ristau, wie sieht der Alltag für Seeleute heutzutage aus?
Matthias Ristau: Manches ist in der Tat so wie früher. Seeleute sind immer noch lange von zu Hause weg, sehr viel Zeit auf dem Meer und die Mannschaft ist aufeinander angewiesen. An Bord sind sie dann alles: Wenn ein Brand ausbricht, sind sie die Feuerwehr, die löschen muss oder diejenigen, die – im Fall der Fälle – den verletzten Kollegen bergen müssen. Verstirbt ein Kollege an Bord, sind es auch die Seeleute, die den Tod feststellen und die Leiche erstmal an Bord behalten müssen. Nicht auf jedem Schiff gibt es zwei Kühlraume, so kann es auch schon mal sein, dass die eingepackte Leiche dann mehrere Tage im Kühlschrank liegt. Ein Unterschied zu früher: Seeleute sind nicht mehr so viel in fremden Häfen, haben weniger Zeit für Landgang. Der Grund dafür, warum wenige von ihnen in den Städten zu sehen sind. Die Besatzungen sind heute außerdem stark reduziert. So haben die Seeleute weniger Leerlauf und deutlich längere Arbeitszeiten. Aber: Die Grundbedingungen auf den Schiffen sind heute besser.

Heißt konkret?
Früher waren mehr Menschen auf einem Schiff, somit gab es noch viel mehr schwere, körperliche Arbeit. Seit 2006 gibt es die Maritime Labour Convention, seitdem werden die Arbeitsbedingungen an Bord kontrolliert und nur noch 70- bis 90-Stunden-Wochen sind erlaubt. Was noch viel klingt, ist bereits ein Fortschritt. Wir freuen uns, wenn uns Seeleute glücklich erzählen: Seit der Pandemie haben wir endlich WLAN an Bord. Ich kann es nicht verstehen, dass es immer noch Schiffe ohne Internet an Bord gibt. Das ist für junge Seeleute inzwischen ein Grund, den Beruf aufzugeben.
Matthias Ristau: „Warum sollten Seeleute Rechte haben?“
Wo muss noch dran gearbeitet werden?
Es ist noch viel Luft nach oben. Die Mannschaft an Bord sind häufig übermüdet, Seeleute von den Philippinen bekommen beispielsweise nur befristete Arbeitsverträge. Das macht es umso schwerer, sich für ihre Rechte einzusetzen. Es gibt immer mal wieder Schiffe, auf denen die Regeln komplett missachtet werden. In unseren Breiten eher selten, aber natürlich gibt es Länder, in denen es heißt, warum sollten Seeleute Rechte haben? Es ist eine Berufsgruppe, die oft nicht gut behandelt wird und wenig Wertschätzung erfährt. Insgesamt ist die Maritime Labour Convention aber ein gutes Beispiel dafür, dass in einer globalisierten Wirtschaft Regeln möglich sind.

Woher kommen die Seeleute heute?
Weltweit gibt es 1,7 Millionen Seeleute und die kommen aus den verschiedensten Ländern, die meisten von den Philippinen und aus China. Jedoch sind nur 4600 Seeleute Deutsche, das waren früher weit mehr.
Warum sind Seeleute so wichtig?
Für die meisten Menschen sind Seeleute heute unsichtbar, aber: Sie sind es, die 90 Prozent des weltweiten Handels transportieren. Zudem ist Deutschland eine Export-Nation und ohne Seeleute, die hochqualifizierte Fachleute sind, wäre auch das undenkbar. Sprich: Wir brauchen die Seeleute zum einen für die Dinge fürs tägliche Leben und zugleich tragen sie zum Reichtum unseres Landes bei. Trotzdem sind die Menschen seeblind, also sehen die Seeleute nicht wirklich. Dabei könnten wir ohne sie gar nicht.
Seeleute stehen an Bord häufig Todesängste aus
Die Deutsche Seemannsmission kümmert sich vor allem auch um die psychosoziale Betreuung der Seeleute. Mit welchen Belastungen haben sie zu kämpfen?
Manchmal sind wir mehrere Tage an Bord, da öffnen sich die Seeleute dann schon. Ihre Belastungen teilen sie meist nicht mit ihren Kollegen und auch ihren Familien in der Heimat sagen sie immer, dass alles gut sei – obwohl es in ihnen ganz anders aussieht. Häufig sind es ein Feuer an Bord oder ein Sturm, durch den sie Todesängste ausstehen mussten. Seeleute erleben diese gigantischen Naturgewalten, das Ausgeliefertsein – und das macht ihnen natürlich Angst. Da ist dann häufig dieses Selbstbild: Wir sind die harten Seebären, das macht uns nichts, man redet nicht darüber. Aber in Wahrheit sind sie völlig fertig. Und: Es ist immerhin noch einer der gefährlichsten Berufe weltweit.

Wie ist Dynamik zwischen den verschiedenen Nationalitäten an Bord?
Seeleute leben eine pragmatische Toleranz. Das heißt, sie wissen, wir sitzen wortwörtlich alle zusammen in einem Boot und wir müssen zusammen auskommen. Aber Konflikte sind natürlich nicht zu vermeiden, wenn verschiedenen Nationalitäten und Religionen aufeinander treffen. Wir erleben aber auch eine große Solidarität untereinander. So erzählte uns ein philippinischer Seemann, dass es ihn sehr belastet, wie es seinem ukrainischen Kollegen geht und dass sein Zuhause in der Heimatzerstört ist.
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Was wünschen Sie sich für die Seeleute?
Erstmal wünschen wir uns, dass die Seeleute gesehen werden. Von der Wirtschaft, von der Politik, von der Gesellschaft und dass sie dann mit Wertschätzung und fair behandelt werden. Dass sie als Menschen gesehen werden und als Menschen, die für uns alle wichtig sind. Und wir brauchen Politiker, die sich verantwortlich für sie fühlen und sagen: Wir wollen gemeinsam die Bedingungen verbessern.