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Weihnachten 1945 in Hamburg: Keine Geschenke, dafür Wassersuppe und Maisbrot

Weihnachten 2020 wird wegen der Corona-Pandemie bestimmt nicht gerade das schönste Fest von allen werden. Aber „das schlimmste Weihnachten seit Kriegsende“, wie Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) kürzlich prophezeite, nein, das wird es gewiss nicht. Für viele ältere Hamburger waren Laschets Worte Anlass, sich hinzusetzen und einmal aufzuschreiben, wie sie 1945 Weihnachten gefeiert haben – also vor 75 Jahren. In einer Zeit, die wirklich schlimm war, geprägt von bitterer Not und Elend. Heute der erste Teil.

Weihnachten 1945 in Hamburg: „Es gab dauernd Brühe aus Blutwurst“

Rudolf Schmidt war Weihnachten 1945 neun Jahre alt. „Es gab so gut wie nichts. Keinen Tannenbaum. Keine Geschenke. Aber das war völlig unwichtig. Wichtig war, überlebt zu haben.“ Und dann erzählt der 84-Jährige von seiner furchtbaren Kindheit, die geprägt war von ständiger Angst vor dem Tod. „Das Erste, an das ich mich überhaupt erinnern kann in meinem Leben, sind die Bombennächte. Immer saßen wir da angezogen im hauseigenen Luftschutzkeller, schliefen auf Strohmatten. Ich habe die ganzen Sirenentöne noch im Ohr. Voralarm, Vollalarm, dann Entwarnung. Nacht für Nacht.“

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Hamburg bei Kriegsende: in weiten Teilen eine Ruinenlandschaft

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Aufgewachsen ist Rudolf Schmidt im Haus Hindenburgstraße 10 in Wilhelmsburg. „Am 18. Juni 1944, es war Pfingstsonntag, brach die Hölle los. Die Bomben trafen auch unser Haus. Der Luftschutzkeller wurde verschüttet, es gab viele Tote, darunter meine damals 39-jährige Mutter. Ich konnte mich selbst aus den Trümmern befreien.“

Als Halbwaise wurde Rudolf Schmidt „kinderlandverschickt“ nach Schlesien in ein Kinderheim. Er erzählt, dass er immer nur geweint habe – aus Sehnsucht nach seiner toten Mutter. Als dann die Front immer näher kam und die Rote Armee zum Sturm ansetzte, wurde er mit den anderen Kindern im Winter 1944 auf die offene Ladefläche eines Lkw gesetzt und so nach Bützfleth bei Stade gebracht, wo er von einem älteren Bauernehepaar aufgenommen wurde.

Bratäpfel an Heiligabend im Alten Land

Heiligabend 1944 gab es da Bratäpfel aus dem Kachelofen. Herbst 1945 ging es zurück nach Wilhelmsburg in eine halb zerstörte Wohnung in der Straße Otterhaken. Nicht mal eine Toilette gab es da. „Mein Vater war seit dem Tod seiner Frau ein gebrochener Mann. Für ihn gab es keinen Gott mehr.“ Das Essen war knapp, alles gab es nur auf Lebensmittelkarte. „Wir mussten Schlange stehen. Ich erinnere mich, dass es dauernd Wurstbrühe aus Blutwürsten gab. Aber egal. Wir haben überlebt. Nur darauf kam es an.“

Weihnachten 1945: Lichtblick in der Heiligen Nacht

Günter Lucks, heute 92 Jahre alt, ist Sohn einer stramm kommunistischen Familie aus Hammerbrook. Sein Bruder ist bei den Bombenangriffen auf Hamburg im Sommer 1943 ums Leben gekommen, ihm selbst gelang nur knapp die Flucht aus dem Feuersturm. Im Jahr darauf – er ist 16 Jahre alt – meldet er sich freiwillig zur Front, kommt zur Waffen-SS, wird verwundet und gerät in sowjetische Kriegsgefangenschaft. 

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Mit 16 Jahren meldete sich Günter Lucks freiwillig zum Dienst an der Front.

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Wunder

Nach einer langen Odyssee in Viehwagen durch Europa bis in den Raum Stalingrad und von da aus zurück Richtung Nordwesten  sind er und seine Leidensgenossen im November 1945 im estnischen Tallinn gelandet – in einem noch unbefestigten Gefangenenlager. Teils hausen sie bei eisigen Temperaturen in Erdhöhlen.

Als Kriegsgefangener litt Günter Lucks Hunger – aber einmal gab es ein „Festmahl“

Lucks erinnert sich an Weihnachten 1945, als wäre es gestern – weil an diesem Tag ein Wunder geschah.Er erzählt: „Die Stimmung unter den Männern war bedrückt, vor Weihnachten schmerzte das Gefühl von Heimweh besonders. Natürlich ahnten wir, dass die Verhältnisse daheim in Deutschland auch nicht rosig waren, dass die Menschen so kurz nach dem Krieg froren und hungerten. Heimweh hatten wir dennoch. Die Älteren waren in Gedanken bei ihren Frauen und Kindern, viele waren den Tränen nahe. 

,Am Spielbudenplatz von St. Pauli, da weiß ich ein kleines Café‘, summte da plötzlich ein Kamerad, der unweit hinter mir stand. Ich war wie elektrisiert, gab es hier etwa noch einen Hamburger? Während wir auf den Zählappell warteten, kamen wir ins Gespräch.  Wir verabredeten uns an jenem 24. Dezember für einen kleinen ,Heimatabend‘, ich freute mich schon darauf, mich endlich mal mit jemandem über andere Dinge zu unterhalten als Kriegserlebnisse. Heimat verbindet. Doch es sollte nicht mehr dazu kommen.

24.Dezember 1945: Weihnachten als Kriegsgefangener

Zehn Männer aus unserer Kolonne wurden aufgerufen, darunter ich – er leider nicht. ,Ras, dwa, tri‘ (,eins, zwei, drei‘) wurde abgezählt, dann schubste man uns auf einen Laster und ab ging die Fahrt in den dunklen Morgen mit unbekanntem Ziel. ,Oh du fröhliche‘, fing ein Kamerad neben mir zu singen an. Für einige war das offensichtlich zu viel. ,Halt doch das Maul, Mensch. Danach ist uns jetzt wirklich nicht‘, schrie jemand.

Die Fahrt ging in die Innenstadt von Tallinn. Am Marktplatz befahl man uns auszusteigen, dem schloss sich ein endloses Warten an. Erst am Nachmittag, es wurde schon dunkel, rief der Posten: ,Schakom, marsch – los geht’s.‘  Wir mussten lange gehen, bis zur ,Pärnuu Mantee‘, der Pernauer Landstraße. Dort befanden sich die großen Gebäude und Hallen einer Möbelfabrik. Durch das Tor zum Werksgelände gelangten wir auf einen kleinen Innenhof.

Weihnachtsessen 1945: Erbsensuppe und Grießbrei

Ein wohlgenährter, beleibter Koch rief uns zu: ,Kommt doch erst mal Essen fassen, wir haben noch viel übrig.‘ Zu mir gewandt, sagte er gönnerhaft: ,Na Bubi, was möchtest du? Wir haben Erbsensuppe mit Fleisch und auch Grießbrei.‘ Mir wurde beinahe schwindelig bei dem Gedanken an das, was uns da angeboten wurde.

Weil ich mich nicht entscheiden konnte, sagte ich: ,Oh, ich mag beides gern, habe aber nur ein Kochgeschirr‘. Und fühlte mich ein wenig gierig. Wahrscheinlich sah der Koch meine großen Augen: Er  gab mir ein zweites Kochgeschirr, beide füllte er randvoll. Ich aß zuerst die Erbsensuppe zur Hälfte auf, widmete mich dann dem Grießbrei. Ich gab mir wirklich große Mühe, alles aufzuessen, stieß aber schnell an meine Grenzen – mein Magen war offensichtlich geschrumpft, er konnte solche Mengen Essen nicht mehr fassen.

Weihnachten 1945 im Gefangenenlager

Als der Koch sah, wie sehr ich mich quälte, griff er nach den Essgeschirren, versuchte sie mir wegzunehmen und sagte: ,Hör auf, dir wird schlecht!‘ Mit blankem Entsetzen sah ich, wie er die halbvoll gefüllten Geschirre in eine große Tonne entleerte. Als ich ihn fragte, wer denn die Essensabfälle bekomme, meinte er lapidar: ,Och, das kriegen die Schweine.‘ ,Die was?‘, hakte ich nach. ,Na die Schweine.‘ Ich dachte nur noch, wie es wohl wäre, den Kameraden draußen im kalten Leuchtturmlager dieses Märchen zu erzählen. Oder was es wohl für ein Fest gewesen wäre, ihnen die Essensreste aus dem Futterkübel zu bringen.

Als es Nacht wurde, lag ich müde, seit langer Zeit erstmals nicht frierend und obendrein satt, unter einer Wolldecke auf einer weichen Matratze. Mir gegenüber unterhielten sich zwei Familienväter über ihre Kinder. Gern hätten sie ihren Überfluss mit den darbenden Angehörigen in der Heimat geteilt, zu denen es bislang keine Möglichkeit der Kontaktaufnahme gab. Ansonsten wurde über das Thema Kinder und Familie nicht gesprochen, es war ein wunder Punkt, an dem wurde nicht gerührt.

Heiligabend 1945 in Estland

Paul sagte: ,Schlaf gut, Bubi. Zumindest morgen müssen wir nicht arbeiten. Fröhliche Weihnachten.‘ Er drehte sich von mir weg, stieß einen mächtigen Furz aus und schnarchte bald, dass das ganze Bett vibrierte. Nicht mehr frieren, gut essen – für einen Moment schien mein Leben in Ordnung zu sein. Zufrieden schlief ich ein. Es war Heiligabend, der 24. Dezember, das schreckliche Leuchtturmlager war in weite Ferne gerückt.“

Im Frühjahr 1946 endet Lucks‘ Zeit bei den gastfreundlichen Esten. Er wird verlegt in immer neue Lager, eins schlimmer als das andere. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln – äußerst dürftig. 650 Gramm Brot, 70 Gramm Zucker, fünf Zigaretten und ein Brei namens Kascha – mehr steht den Gefangenen pro Tag nicht zu. Weil sie gleichzeitig hart arbeiten müssen, werden die Männer krank. „Die Leute starben wie die Fliegen. An Ruhr, Typhus und an einer besonderen Form von Malaria, mit der auch ich mich ansteckte.“

Weihnachten 1945: Menschlichkeit im Elend

Wieder erfährt Lucks mitten im Elend ein wenig Menschlichkeit: „Ich war immer der Jüngste, und eine russische Ärztin erklärte es zu ihrer wichtigsten Aufgabe, wenigstens dem ,Jungen‘ das Leben zu retten. Sie ist mitten im Winter mit einem Schlitten nach Moskau gefahren, um Penizillin zu besorgen. So habe ich überlebt.“

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Günther Lucks: Briefe an die Mutter aus der Gefangenschaft.

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Am 10. April 1947 – Lucks ist inzwischen 18 – erhält er zum ersten Mal die Genehmigung, eine Karte nach Hause zu schreiben. Genau 25 Worte. Mehr sind nicht erlaubt. Er gratuliert der „lieben Mutti“ zum Geburtstag. Es ist etwa in dieser Zeit, dass sich der junge Mann zum ersten Mal verliebt. Er ist inzwischen in ein Lager nach Moskau verlegt worden. Durch den Stacheldrahtzaun erblickt er das zauberhafte Wesen, das auf der anderen Seite Radieschen pflanzt: Walja.

Ein „Techtelmechtel“ beginnt. Lucks besticht den Wachmann, damit der ihn wenigstens für ein paar Stunden hinaus in die Freiheit lässt. Erste Zärtlichkeiten. Erste Küsse. Erste Liebe. Wenigstens für ein paar Momente ist Lucks nicht mehr nur ein Gefangener, sondern ein junger Mann.Ende Dezember 1949 lassen die Russen den 20-Jährigen frei.

Am 4. Januar 1950 – auf den Tag genau fünf Jahre, nachdem er seine Heimatstadt verließ – fährt sein Zug in Hamburg ein. Lucks erinnert sich, wie er vor dem Hautbahnhof in die altvertraute Straßenbahn steigt. „Jetzt endlich war auch ich befreit.“

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Günter Lucks ist 92 Jahre alt.Er lebt in Horn und schreibt Bücher über die Zeit im Krieg.

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Der inzwischen 92-Jährige lebt in Horn und ist Autor. Gemeinsam mit dem ehemaligen MOPO-Redakteur Harald Stutte verfasste er unter anderem diese Bücher: „Der rote Hitlerjunge“, „Hitlers vergessene Kinderarmee“, „Ich war Hitlers letztes Aufgebot“, „Zehn Tage im Juli“ (Rowohlt).

Weihnachten nach dem Krieg: „Lebertran rettete uns über den Winter“

Hans-Uwe Seib (81) aus Eidelstedt verbrachte Weihnachten 1945 zufälligerweise fast genau dort, wo sich das MOPO-Redaktionsgebäude heute befindet – nämlich in einem ehemaligen Arbeitslager an der Gaußstraße in Ottensen, wo während des Krieges KZ-Häftlinge untergebracht waren.

Weihnachten 1945: Für Hans-Uwe Seib gab’s Wassersuppe und Maisbrot

Er erinnert sich: „Ende November 1945 kamen wir drei ,Buten-Hamburger‘ – Oma, Mama und ich – von unserer langen Flucht wieder zurück nach Hamburg und fanden uns als Flüchtlinge in diesem Wohnlager in Ottensen wieder. Dort wurden wir drei ,gemütlich‘ mit 25 weiteren Personen in einem großen Raum untergebracht: Ein paar alte Männer und viele Frauen mit ihren Kindern. Jüngere Männer waren nicht darunter, die waren als Soldaten entweder gefallen oder in Kriegsgefangenschaft.

Ernährt wurden wir mit Wassersuppe und Maisbrot aus einer Gemeinschaftsküche der Sozialbehörde. An einem Advents-Nachmittag wurden wir Kinder in der Lager-Krankenstation zusammengerufen, wo wir gemeinsam ein paar Weihnachtslieder sangen. Seit diesem Nachmittag ist ,Stille Nacht‘ mein Lieblingsweihnachtslied.

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Aus alten Konservendosen essen diese beidenKinder ihre Mahlzeit.

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Keine Geschenke am ersten Weihnachtsfest nach dem Krieg

Geschenke? Nö, da gab’s nix! Wir waren froh, noch am Leben zu sein! Ach ja, in unserem ,gemütlichen‘ Raum stand ein kleines  ungeschmücktes Tannenbäumchen!    Weihnachten 1946? Daran habe ich keine Erinnerung mehr. Nur an den Dorsch-Lebertran erinnere ich mich, den wir Kinder einmal wöchentlich den ganzen Winter über in der Krankenstation einnehmen mussten! Bääähh! Aber damit beziehungsweise dadurch sind wir Kinder wohl recht gut über diese schlimmen Zeiten gekommen.

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Hans-Uwe Seib (81) lebt in Eidelstedt. Weihnachten 1945 war er in Ottensen.

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Weihnachten 1947? Da hatten wir drei bereits ein eigenes Zimmer! Rund 15 Quadratmeter groß! Statt Tür gab es einen Vorhang, den wir zuziehen konnten, denn da vorn war noch ein Durchgang zum nächsten Zimmer. Darin wohnte Frau Hollmann mit ihren zwei Kindern. Auch 1947 fanden keine Weihnachtsfeiern statt. Nur wir Kinder versammelten uns wieder in der Krankenstation und sangen Weihnachtslieder.

Weihnachten 1948: die ersten Geschenke aus dem Alsterhaus

Aber dann kam 1948! Da steppte der Bär! Am 20.6. wurde die neue D-Mark ausgegeben. Und im Laufe des Sommers erlebten wir einen weiteren sozialen Aufstieg, denn wir zogen schon wieder in ein größeres Zimmer um. Dieses Mal sogar abschließbar, mit Fenster und einem kleinen Herd, auf dem Oma nun auch für uns etwas kochen konnte, denn die Gemeinschaftsküche war geschlossen worden. Nun konnte das Leben beginnen!

Wer durch irgendwelche Vermögenswerte abgesichert war, bekam wieder Boden unter seine Füße. Wir Heimkehrer bekamen jeder in zwei Raten 40 Mark ausgezahlt. Ich erinnere, dass wir in der Nachkriegszeit mal im Alsterhaus waren. Dort tappelten wir auch durch die Spielwarenabteilung. Sensationell, was es dort alles gab! Mein Kinderherz platzte bald vor Begeisterung! Was ich davon zu Weihnachten bekam? Ein klitzekleines Spielzeugauto, mit dem ich sogar im Bett spielen konnte!

Der erste bunte Weihnachtsteller nach dem Krieg

Und es gab auch meinen ersten bunten Weihnachtsteller. Aber viel war da nicht drauf. In meiner Erinnerung nur ein paar Süßigkeiten. Hat nicht sehr lange gedauert, bis ich den Teller leer hatte – mit dem Erfolg, dass der ganze Zucker nach etwa 30 Minuten wieder rauskam. Mannomann, was habe ich mich darüber geärgert! Alles wieder weg!“​

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