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  • Heute ist die Hamburgerin Tanja Marfo eine erfolgreiche Unternehmerin und Plus-Size-Model.
  • Foto: Tanja Tremel

Warum Schönheitsideale krank machen: „Ich war immer zu dick, zu laut, zu alles“

Bergedorf –

Der Po zu dick, der Bauch nicht definiert genug, zu groß, zu klein, zu laut, zu alles – das Gefühl, vor dem Spiegel zu stehen und an sich selbst rumzumäkeln, kennt wahrscheinlich jeder. Welche Folgen die Jagd nach dem unerreichbaren Schönheitsideal haben kann, erzählt die Hamburgerin Tanja Marfo in einem Zoom-Meeting mit der MOPO. Viel zu lange hat sie von sich selbst gedacht: „Nur schlank bin ich etwas wert.“  

Als sich das Zoom-Fenster öffnet, strahlt Tanja Marfo in die Kamera. Sie hat rote Locken, einen festen, freundlichen Blick, lacht viel und laut und eine starke Präsenz. Es soll um ihr neues Buch „Size egal“ gehen, das sie zusammen mit ihrer Co-Autorin Caro Matzko geschrieben hat.

Ein Buch über zwei Frauen, zwei Essstörungen und das gleiche Problem: unerreichbare und zerstörerische Schönheitsideale. Am Ende ist es aber eine Reise in Marfos Vergangenheit geworden. 

Im Buch „Size egal“ sprechen Tanja Marfo und Caro Matzko wie zwei Freundinnen am Kaffeetisch über ihre Vergangenheit

Im Buch „Size egal“ sprechen Tanja Marfo und Caro Matzko wie zwei Freundinnen am Kaffeetisch über ihre Vergangenheit und warum sich beide nie genug gefühlt haben. Matzko litt unter Magersucht, Marfo ist Binge-Eaterin. 

Foto:

Nadine Schachinger

Tanja Marfo: Vom ersten Tag hörte sie, dass sie nicht richtig ist

„Meine ersten Erinnerungen an meine Kindheit sind sehr positiv“, sagt sie und erzählt von schönen Tagen, in den Sandbergen oder auf Lkws auf einem Bauhof in Hamburg, den ihr Vater führte. „Aber eigentlich habe ich von Tag eins an gehört, dass ich nicht richtig bin“, sagt sie. Schon bei ihrer Geburt habe man sie als „Brocken“ bezeichnet, ein Baby von 3,5 Kilogramm und 54 Zentimetern – ihre Mutter ist zierlich und klein, erzählt sie.

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In der Schule bekam sie das erste Mal mit, „dass ich so, wie ich bin, nicht gut genug bin“, sagt sie. In der Vorschule zog eine Lehrerin die heute 41-Jährige einmal am Ohr und sagte: „Jetzt sei endlich still, Mädchen tun so etwas nicht“, erinnert sich Marfo. „Wahrscheinlich hatte ich was gefragt, und sie war genervt.“

Sie sei anders gewesen als ihre Mitschülerinnen: „Die waren immer schön, mit Schleifen im Haar, angepasst und brav.“ Für Marfo entwickelten sich daraus der Glaubenssätze: „Ich darf nicht laut sein, ich muss mich anpassen, ich bin zu dick.“

Tanja Marfo – Essstörungen einzugestehen ist ein langer Weg

Schon mit 12 Jahren war sie einen Kopf größer als ihre Mutter. Je älter sie wurde, desto mehr Gewichtsschwankungen gab es. „Ich habe nie gelernt, normal zu essen“, sagt sie.

Es sind alltägliche Situationen: Es wurde gekocht, also soll auch gegessen werden, isst man zu viel, wird darauf hingewiesen. „Es ist eine Spirale an Worten, der sich die meisten nicht bewusst sind“, sagt Marfo.

Über Jahrzehnte ist sie von einer Diät zur anderen gesprungen, hat hier mal 20 Kilogramm abgenommen und dort wieder 40 zu. „Es ist ein Karussell aus Essen, Reue und Hungern“, sagt sie.

Es hat lange gebraucht, bis sie sich selbst ihre Essstörung eingestehen konnte. Sie leidet unter Binge-Eating. In kürzester Zeit isst man eine große Menge, anders als bei Bulimie erbrechen sich Betroffene aber nicht. „Man stopft die hungernde Seele, die ja eigentlich nach was ganz anderem hungert, mit Essen voll“, sagt Marfo.

Essstörung: Erst muss die Seele heilen, dann der Körper

Vor ein paar Jahren holte sie sich Hilfe bei einer Therapeutin. Die riet ihr, sich ihren Panzer, also ihre Pfunde, als ein physisches Gegenüber vorzustellen. Sie nannte ihn Poldi – nach dem kleinen gefräßigen Drachen aus der Kinderserie „Hallo Spencer“.

An den grünen Drachen sind ihre Ängste und Gefühle gekoppelt, die sie lieber tief in einem Kellerloch vergrub. Durch einen Besuch in einem Kloster wurde sie endgültig aufgerüttelt: „Mach dort Licht an, wo lange keines war, und finde deinen Weg“, zitiert sie den Mönch. Sie stellte sich ihren Ängsten – denn der Körper heilt erst, wenn die Seele gesund wird.

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Heute ist sie eine andere, sagt sie über sich selbst. Sie nimmt sich an, wie sie ist, und findet sich schön. „Das Leben ist nicht abhängig von der Konfektionsgröße“, sagt sie.

Während sie vor Jahren noch als Make-up Artist hinter der Kamera tätig war, steht sie heute meist selbst vor der Linse. Sie ist Plus-Size-Model, Unternehmerin, Autorin und Influencerin, „auch wenn ich diese Bezeichnung nicht besonders mag“, sagt sie.

Tanja Marfo kämpft für mehr Diversität und Sichtbarkeit

Der Weg war schwer und holprig, insgesamt herrsche noch immer eine starke Stigmatisierung gegenüber dicken Menschen vor: Sie seien faul und undiszipliniert. Als dicker Mensch müsse man mehr und härter arbeiten, um den gleichen Erfolg wie andere zu haben.

Selbst innerhalb der Plus-Size-Gemeinschaft gäbe es Unterschiede, sagt Marfo. Hier gilt als „normschön“, wer eine Sanduhrfigur hat – große Oberweite, flacher Bauch und runder Po.

Mit ihrem Unternehmen „Kurvenrausch“ kämpft sie für mehr Diversität, Sichtbarkeit und die Veränderung von Sehgewohnheiten, denn in Deutschland gilt, „eine Größe 42/44 ist das, was das deutsche Auge gerade noch ertragen kann“, sagt sie. Obwohl das der durchschnittlichen Größe der Frauen entspricht.  

Plus-Size-Model Tanja Marfo lässt „Ideale“ links liegen 

Marfo hat keine „Heldenreise“, wie sie die Abnehmstorys mit Vorher- und Nachher-Fotos nennt, hinter sich. Sie hat zu sich selbst gefunden und lässt „Ideale“ mittlerweile links liegen. Ihr Ziel ist es gesund und agil zu sein, „egal mit welcher Konfektionsgröße“, sagt sie.

Das Buch „Size egal“ habe viel zu ihrer Heilung beigetragen und soll jetzt anderen helfen. Heute weiß sie: „Warte nicht auf schlanke Zeiten.“

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