Legendärer Kiez-Schuppen: Warum der Goldene Handschuh mehr als eine Absturzkneipe ist
„Eins kann mir keiner, eins kann mir keiner eins kann mir keiner nehmen, und das ist die pure Lust am Leben!”
Morgens, halb zehn in Deutschland – genauer gesagt: Am Hamburger Berg 2, 22765 St. Pauli. Ich bin in den zehn Jahren, die ich schräg gegenüber vom Goldenen Handschuh lebte, um die Uhrzeit gefühlt fünftausend Mal hektisch an den Fenstern mit den vergilbten Gardinen vorbeigehetzt. Schnell zur S-Bahn, sonst komm ich schon wieder zu spät ins Büro. Aber an dieses eine Mal erinnere ich mich ziemlich genau. Der Gute-Laune-Knüller von Geier Sturzflug. „Die pure Lust am Leben“ schallt aus Hamburgs Abrausch-Pinte Nummer eins. Aber ist das wirklich so bizarr, wie es in dem Moment klang?
Morgensonne, Kiez-Restalkoholdunst in der Luft und ein blasses Mädchen mit Astra vor der Tür. Wippt sie mit – oder kann sie einfach nicht mehr stehen? Geier Sturzflug – okay, das passt irgendwie zu Hamburgs Sturz- und Schmierensuff-Kneipe mit plakativ-promillelastigem Image. Aber die pure Lust am Leben? Muss man die Sache dafür mal bei Tageslicht betrachten?
- Deutsch (Deutschland)
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„Eins kann mir keiner, eins kann mir keiner eins kann mir keiner nehmen, und das ist die pure Lust am Leben!”
Morgens, halb zehn in Deutschland – genauer gesagt: Am Hamburger Berg 2, 22765 St. Pauli. Ich bin in den zehn Jahren, die ich schräg gegenüber vom Goldenen Handschuh lebte, um die Uhrzeit gefühlt fünftausend Mal hektisch an den Fenstern mit den vergilbten Gardinen vorbeigehetzt. Schnell zur S-Bahn, sonst komm ich schon wieder zu spät ins Büro. Aber an dieses eine Mal erinnere ich mich ziemlich genau. Der Gute-Laune-Knüller von Geier Sturzflug. „Die pure Lust am Leben“ schallt aus Hamburgs Abrausch-Pinte Nummer eins. Aber ist das wirklich so bizarr, wie es in dem Moment klang?
Morgensonne, Kiez-Restalkoholdunst in der Luft und ein blasses Mädchen mit Astra vor der Tür. Wippt sie mit – oder kann sie einfach nicht mehr stehen? Geier Sturzflug – okay, das passt irgendwie zu Hamburgs Sturz- und Schmierensuff-Kneipe mit plakativ-promillelastigem Image. Aber die pure Lust am Leben? Muss man die Sache dafür mal bei Tageslicht betrachten?
Dass es mit fluffig-vibrierendem Frohsinn hier womöglich nicht weit her sein kann, darüber klärte Heinz Strunk in seinem suffpoetischen Bestseller „Der Goldene Handschuh” 2016 blumig-blümerant auf. Da ist die Rede von Restwut, Sturzsuff, Verblendschnaps. Oha. Fatih Akins Verfilmung 2019 verpasste dem Handschuh dann von Flens- bis Freiburg final das Label „Kultkneipe, aber in krass“. Fast zu krass für viele Kiez-Besucher.
Marco Nürnberg, Handschuh-Gastgeber in vierter Generation, erzählt schmunzelnd: „Am Wochenende stehen hier oft Touristen vor der Tür – und trauen sich nicht rein. Ich gehe dann oft raus und spreche sie höflich an, dann sind die total erstaunt: ,Huch, der redet ja ganz normal.‘ Und drinnen wundern sie sich, dass sie charmant bedient werden und tatsächlich auch gute Getränke bekommen.“
Wie geht es Hamburgs bekanntestem Stadtteil, den Menschen die dort Leben und Arbeiten, wirklich? Was brauchen sie, was wünschen sie sich? Warum sind die Kiez-Kneipen in Gefahr und was macht den „Goldenen Handschuh“ so besonders? Dieser Text ist Teil unserer Sonderausgabe vom Kiez.
Frauenmörder Fritz Honka verbrachte seine letzten Jahre im Altersheim
Trotzdem: Vor der zweiten Buddel Holsten und dem zweiten Helbing ist es anfangs oft das Gruseln über den abartigen Fritz, das die auswärtigen Gäste am Tresen hält. „Honka Stube”, das stand hier schon über der Tür, bevor Heinz und Fatih sich dem Triebtäter künstlerisch widmeten. Der hat den skurrilen Kult um seine Untaten übrigens nicht mitbekommen: Der vierfache Frauenmörder wurde 1993 aus der Psychiatrie in Ochsenzoll entlassen und verbrachte seine letzten Lebensjahre in einem Altersheim in Scharbeutz. Unter Pseudonym, bis er 1998 starb – an den Spätfolgen von jahrzehntelangem Sturz- und Schmiersuff.
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Honka-Hype, Schnäpse und True-Crime-Tourismus am Tresen. Aber was ist denn nun mit der puren Lust am Leben? Gibts die nur auf Knopfdruck aus der Jukebox, als einen von knapp 2000 Songs? Daniel (32) weiß es. Er arbeitet seit elf Jahren im Handschuh. „Die ersten zwei Jahre war es echt hart“, erzählt er mittags um eins am Mittwoch – während einer kurzen Gesprächspause mit Andrea, die seit 30 Jahren weiß, warum sie herkommt.
„Er kannte sich halt nicht aus“, sagt sie. „Es dauert, bis man die Menschen hier kennenlernt“, sagt Daniel. „Aber dann ist es wie eine Familie. So einen Zusammenhalt gibt es woanders nicht.“ Andrea bestellt irgendwas mit Cola, Daniel erzählt, dass er nicht mehr raucht und trinkt, seitdem er im Handschuh arbeitet. Und dass er nichts anderes machen möchte. Das beste Team, der beste Chef, Gäste, die mehr sind als Getränkebesteller. „Als Frau kannst du hier mit zehn Euro reinkommen”, sagt Andrea. „Und hast ständig ein volles Glas.” Wobei: „Als Mann meistens auch. Irgendeiner bestellt immer das nächste Bier für dich.” Sie ordert einen Schnaps für die junge Frau rechts am Tresen. Am Wochenenden bleibt sie aber lieber zu Hause im beschaulichen Wedel: „Für den Trubel, der hier dann herrscht, bin ich zu alt.“
Der Goldene Handschuh: Schwer einen sitzen und keine Termine
Wie alt genau, sagt sie nicht, aber das macht nichts. Alter ist ja auch nur: eine Zahl. Und Zahlen zählen im Handschuh null. Schon gar nicht, wenn sie auf der Uhr oder dem Kalender stehen. „Gestern ist Geschichte, das Morgen ein Geheimnis und Heute ist das Leben”, steht auf einem Schild an der Wand. So ähnlich hat das Eleonor Roosevelt mal gesagt.
Die längst verblichene First Lady der USA hat hier ganz sicher nie Korn getrunken, aber sie hat’s erfasst: Im Goldenen Handschuh ist immer jetzt. Das Leben. „Hier existiert die Zeit definitiv nicht. Nicht nur, weil wir die wunderbaren Gardinen haben, die das Tageslicht abhalten“, erzählt Handschuh-Chef Marco irgendwann später an diesem Tag. „Man kann hier versacken und sich fragen, welcher Tag eigentlich ist.“
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Ob 19 oder sieben Uhr: Keine Termine und schwer einen sitzen, das ist auch eine mögliche Definition von Glück. Mehr als 22 Stunden am Stück funktioniert das aber mittlerweile nicht mehr: Seit dem Lockdown hat der Handschuh täglich von 16 bis 18 Uhr geschlossen. 120 Minuten Auszeit. „Aber danach kann jeder wieder frisch und erholt an den Tresen kommen.“
Für Marco, den Urenkel von Handschuh-Gründer und Boxer Herbert Nürnberg, ist dieser Kneipen-Raum ohne Zeit eine Berufung. „Es ist eine absolute Ehre für mich, den Laden in vierter Generation zu führen.“ Er freut sich über jeden Gast, ob morgens um halb zehn, nachts um halb eins oder in der Nacht von Freitag bis Sonntag. „Ich kann mir für mein Leben nichts Schöneres vorstellen“, sagt er. „Livin‘ la Vida Loca“ gibt’s übrigens auch in der Jukebox.