• Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat ihre Hände zu einer Raute geformt (Archivbild).
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Vor fünf Jahren begann die Flüchtlings-Krise: Was wir geschafft haben — und was nicht

Das Land rotierte. Im emotionalen Ausnahmezustand. Da war das Erstaunen über die Menschen von weit her, die für viele sehr plötzlich sehr zahlreich an unseren Grenzen standen. Die Sorge angesichts der Momente der Überforderung, die die ersten Tage, Wochen und Monate prägten. Die Welle der Hilfsbereitschaft und Zuwendung vieler. Und die Wut derer, die die Fremden als Bedrohung für ihren Besitz und ihre Sicherheit ansahen. Fünf Jahre ist es knapp her, dass Angela Merkel das alles mit „Wir schaffen das“ kommentierte. Und? Haben wir?

Tja. Kommt drauf an, was gemeint war. Fakt ist: Die „Flüchtlings-Krise“, die von 2015 an das Land in den Bann zog, ist heute medial kein großes Thema mehr. Die deutsche Verwaltung, in ihrer Wirkmächtigkeit auch im weltweiten Vergleich ein Dickschiff, hat nach langem Schlingern angesichts der plötzlichen und sehr großen Herausforderung strukturell und organisatorisch alles aufgesogen. Asylverfahren, Sozialversicherungen, Unterbringung – alles routiniert inzwischen. Auch über misslungene Abschiebungen, für viele Zuwanderungs-Gegner stets ein rotes Tuch, war lange nichts mehr zu hören.

Und wahrscheinlich ist, dass Angela Merkel genau das gemeint hat, als sie sagte: „Wir schaffen das.“ Weil es ihrem Naturell entspricht, die Dinge sachlich zu betrachten. Und weil diese Einschätzung für diesen Teil der bürokratischen Bewältigung naheliegend ist.

Auf Seite der Böswilligen pflegte man Zerrbild der „Messer-Migranten“ und Vergewaltiger

Aber Politik ist eben mehr als Rationalität. Politik ist, mindestens auf der Empfänger-Seite, oft geprägt von Hoffnung, Sorge, Misstrauen, Enttäuschung. Und die Lücken, die Merkel in ihrer Kommunikation ließ, füllten die Bürger, je nach ihrer persönlichen Konstitution, auf mit ihren eigenen Projektionen und Bildern.

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Auf der Seite der Optimisten war das, zugespitzt auf einen Satz: Flüchtlinge sind die Lösung für den Facharbeitermangel. Auf der Seite der Pessimisten: Flüchtlinge bluten die Sozialsysteme aus und nehmen uns etwas weg. Und auf der Seite der Böswilligen wurde das Zerrbild der „Messer-Migranten“ und Vergewaltiger, die das Land brandschatzend überrollen, gepflegt.

Je lauter die eine Seite ihre Thesen vertrat, desto entschiedener hielt die andere dagegen. Das Ergebnis ist bis heute überdeutlich sichtbar. Die Verwerfungen, die unsere Parteienlandschaft erschüttern und verändert haben. Der Aufstieg der AfD, die zwischenzeitlich völlig entgrenzte Diskussionskultur. Die Vertiefung der Gräben. Das Lager-Denken. Die offensichtliche Entfremdung vieler von unserem demokratischen System.

Und: die erste wuchtige Welle der Verschwörungstheorien. Damals war es der angeblich von langer Hand geplante Bevölkerungsaustausch, personifiziert mit George Soros. Heute sind es Corona-Mythen, die Bill Gates zum Strippenzieher hinter der Pandemie erklären.

Die gute Nachricht ist: Die Mehrheit, und eigentlich sogar die große Mehrheit der Menschen in unserem Land, hatte und hat eine ausreichend gesunde Mischung aus Vernunft, Mitgefühl und Faktenkenntnis, um zu gewährleisten, dass wir als Gemeinschaft diese Situationen überstehen können.

Wie wichtig das ist, zeigt die Schlagzahl, mit der wir in der jüngeren Vergangenheit mit gesellschaftlichen Riesen-Themen beschäftigt waren. Sie ist brutal hoch. Alarmstufe Rot war in den vergangenen Jahren und ist nach wie vor mehr Alltag als Ausnahme. Und das meist sogar nachvollziehbar begründet: Islamistischer Terror. Rechter Terror. Klimawandel. Alles existenziell. Alles kompliziert. Alles hoch emotional.

Und dann Corona.

Es gibt, und es ist wichtig, das auch zu sehen, neben einer ganzen Reihe von Dingen, die „wir geschafft“ haben, auch einiges, was im Zusammenhang mit den Flüchtlingen noch nicht abschließend gelungen ist, wie unsere Recherche zur Situation der Geflüchteten in Hamburg zeigt: eine Integration in der Breite nämlich. Sowohl in den Arbeitsmarkt als auch in die Gesellschaft. Es wird noch viel Zeit, Geld und Einsatz benötigen, die Zahl der Erwerbstätigen unter den Geflüchteten zu erhöhen. Die, die dauerhaft eine Perspektive bei uns haben sollen, nicht nur unterzubringen, sondern zu einem aktiven Teil unserer Gesellschaft zu machen.

Wichtig ist: Die Tendenz, den professionellen Schwarzmalern und Angstschürern mit überbordendem Optimismus zu begegnen, ist als Reflex nachvollziehbar, führt aber zu zu hohen Erwartungen, und im Nachhinein oft zu Enttäuschungen, wo man eigentlich schon zufrieden mit dem Erreichten sein könnte.

So ist, bezogen auf die Flüchtlingsdebatte, das Argument, als privilegierte Gesellschaft Menschen in Not helfen zu müssen, deutlich haltbarer als die These, dass da Fachkräfte heraneilen, die uns sogar flott wirtschaftlich voranbringen.

Es sind monströs aufregende Zeiten zurzeit. Und es hilft nur eins, da durchzukommen: Vernunft und Mitgefühl. Weil Merkel in den entscheidenden Momenten oft beides gezeigt hat, sehen viele sie als Ausnahmepolitikerin. Und das, obwohl sie an anderer Stelle oft geschwächelt hat: ihre Politik transparent zu machen, und eben auch zu Risiken und Schattenseiten wichtiger Grundsatzentscheidungen offen zu kommunizieren.

Für die Hamburger gilt, und auch das festzuhalten, ist wichtig: Sie haben zehntausenden notleidenden Menschen über die Jahre ein Dach über dem Kopf gegeben, ihnen geholfen, vielen die Tür geöffnet, um Teil unserer Gesellschaft sein zu können. Das HABEN wir geschafft – und den Rest kriegen wir auch noch hin. Gemeinsam.

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