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  • Propagandaminister Joseph Goebbels hetzt gegen Juden und organisiert die Pogrome vom November 1938.
  • Foto: dpa

Vor 82 Jahren in Hamburg: SS-Männer pinkeln auf die Heilige Schrift

Ein Tag der Schande in der deutschen Geschichte: der 9. November 1938. SA- und SS-Leute verhafteten und misshandelten jüdische Mitbürger, schlugen Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte ein, zertrümmerten Inventar und Auslagen. Und die Bornplatz-Synagoge im Grindelviertel ging damals in Flammen auf. Sie soll nun wieder aufgebaut werden: Unter dem Eindruck des Anschlags von Halle im Oktober 2019 und des um sich greifenden Antisemitismus haben sich Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) und die Bürgerschaft dafür ausgesprochen: Es soll ein Zeichen gesetzt werden, dass das Judentum dazugehört.

Der 9. November 1938 ist ein Mittwoch. Um 23.55 Uhr erreicht ein Fernschreiben aus Berlin die Gestapo-Leitstelle Hamburg. Es werde überall im Reich zu „Aktionen gegen Juden“ kommen. „Sie sind nicht zu stören“, so lautet die Anweisung. Am Rathausmarkt beobachtet ein Anwohner mitten in der Nacht zivil gekleideter Männer, die von uniformierten SA-Leuten in Gruppen aufgeteilt werden. Jede Gruppe erhält einen Anführer. Gegen 1 Uhr marschieren die Männer los. Um 3.30 Uhr wird dann mit dem Einschlagen der Fenster begonnen.

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Ehemalige Synagoge am Bornplatz

Foto:

Staatsarchiv Hamburg

Joseph Goebbels fordert Rache und Vergeltung

Joseph Goebbels, Adolf Hitlers Einpeitscher, wird später von „spontanem Volkszorn“ sprechen, von „tiefer Empörung des deutschen Volkes“ über den Mord an Ernst Eduard vom Rath in Paris. Aber hier ist gar nichts spontan, sondern alles organisiert. Das Pogrom ist seit Langem geplant, nur ein Anlass hat gefehlt. Und den liefert der 17-jährige Herschel Grynszpan, als er am 7. November aus Empörung über die Abschiebung polnischer Juden aus dem Deutschen Reich – darunter seine Eltern – auf den deutschen Diplomaten Schüsse abfeuert.

Der Mord an den Diplomaten vom Rath ist willkommener Anlass

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Bei den Pogromen im November 1938 verwüsten SA- und SS-Männer im ganzen Reich jüdische Geschäfte

Foto:

MOPO-Archiv

Als vom Rath am 9. November seinen Verletzungen erliegt, ist die Nazi-Elite gerade in München versammelt. Hitler, Goebbels und Hamburgs Gauleiter Karl Kaufmann feiern im „Bürgerbräukeller“ den 15. Jahrestag des Novemberputsches von 1923. Die Nachricht vom Tod des Diplomaten trifft während eines „Kameradschaftsabends“ ein, und Joseph Goebbels hält sofort eine antisemitische Hetzrede, die in einem Appell nach Vergeltung und Rache gipfelt.

Die anwesenden Gauleiter verstehen genau, was das heißt und geben gleich darauf Befehle telefonisch an ihre Dienststellen weiter. Auch Karl Kaufmann.

In Hamburg gehen SA und SS  mit besonderer Hingabe ihrer Zerstörungslust nach. Besonders große Verwüstungen richten die Nazi-Schläger in der Innenstadt an. „Unger“ an der Mönckebergstraße wird demoliert, am Neuen Wall das Fotogeschäft „Campbell“ sowie die Modehäuser „Robinsohn“ und „Hirschfeld“. Wo der Nazi-Mob fertig ist, ist der Asphalt mit Glasscherben übersät – so entsteht später die zynische Bezeichnung „Reichskristallnacht“.

Hans Robinsohn: „Geschäft sah aus wie nach einer Beschießung“

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Die Glasscherben der zerschlagenen Schaufensterscheiben führen zu der zynischen Bezeichnung „Reichskristallnacht“.

Foto:

dpa

Wie Inhaber Hans Robinsohn sein Geschäft am nächsten Morgen vorfindet, hat er in seinen „Erinnerungen“ festgehalten: „Erdgeschoss und erster Stock sahen wie nach einer Beschießung aus. Sämtliche Fenster waren eingeschlagen. Schreibmaschinen waren mit Brecheisen auseinander gebrochen, alle Schaufensterpuppen in den hinter den Häusern gelegenen Alsterkanal geworfen. Alle Glastische und -schränke waren zerstört …“

879 Juden werden in Hamburg festgenommen und gefoltert

In der Nacht kommt um 1.20 Uhr ein weiteres Fernschreiben bei der Gestapo in Hamburg an: Der Befehl lautet, es seien so viele Juden festzunehmen, wie in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden könnten. Sofort schwärmen die Häscher aus.

Mindestens 879 Bürger jüdischen Glaubens werden in der Gestapo-Zentrale im Stadthaus zusammengeschlagen, gefoltert und im KZ Fuhlsbüttel eingekerkert. Einige entziehen sich der Festnahme – springen aus dem Fenster oder hängen sich auf.

Während es anderswo im Reich nach einer Nacht vorbei ist, gehen in Hamburg die Pogrome weiter. Der Grund: Harburgs NSDAP-Kreisleiter Wilhelm Drescher und Hamburgs SA-Obersturmführer Sievers sind nicht zufrieden mit dem Ausmaß der Zerstörung. Deshalb muss am 10. November „nachgebessert“ werden.

SS-Männer tragen alles weg, was von Wert ist

Auch die große Bornplatzsynagoge wird nicht verschont: Am Morgen des 10. November 1938 fährt die zwölfjährige Ruth Frank mit ihrem Fahrrad zur Schule und kommt dabei wie immer an der Synagoge vorbei. Dort herrscht Chaos, berichtet sie. NS-Schergen haben die Mosaikfenster zerschlagen, Kultgegenstände und Mobiliar auf die Straße geworfen.

Schockiert beobachtet das Mädchen, wie SS-Männer in Schaftstiefeln und „mit aufgeknöpften schwarzen Hosen“ dastehen und auf die „Rollen der Heiligen Schrift“ pinkeln. Andere SS-Männer tragen alles weg, was von Wert ist – darunter auch die silbernen Torakronen.

„Für uns Juden keine Zukunft in Deutschland“

Ein anderer Zeuge ist er: der 13-jährige Schlomo Schwarzschild. „Als ich atemlos am Bornplatz ankam, sah ich das Schreckliche. Die Jüngeren schienen amüsiert. Die anderen standen meist schweigend mit ernsten Mienen herum. Einige grinsten schadenfroh. Dicker, schwarzer Rauch quoll aus den Fensterruinen. Zerfetzte Torarollen und Gebetbücher lagen in den Scherbenhaufen. Dieser Moment bedeutete für mich das traumatische Ende meiner Kindheit. Es war mir klar, dass es hier in Deutschland für uns Juden keine Zukunft geben könne.“

Nazis entziehen den Juden die Existenzgrundlage 

Für Hamburger Juden ist jetzt der Moment gekommen, die Stadt zu verlassen. Für die, die bleiben, beginnt die Hölle auf Erden. Dem Pogrom folgt ein Bündel gesetzgeberischer antijüdischer Maßnahmen. Unter anderem wird ihnen jede selbstständige berufliche Tätigkeit untersagt. Mit dem Ziel, den Juden endgültig die Existenzgrundlage zu nehmen und sie aus Deutschland zu verjagen, aber nicht, ohne ihnen vorher noch ihr Vermögen zu rauben. 

Das gilt auch für die jüdische Gemeinde, die 1939 gezwungen wird, die Ruine der Bornplatz-Synagoge nebst Grundstück an die Stadt zu verkaufen – für lächerliche 90.000 Reichsmark. Die Abbruchkosten von 5000 Reichsmark werden noch in Abzug gebracht. Aber selbst den kleinen Rest von 85.459 Reichsmark erhält die Gemeinde nie.

Gestohlene jüdische Grundstücke: Alt-Nazi handelt für Hamburg skandalösen Vertrag aus

Das Unrecht wird auch nach 1945 nicht rückgängig gemacht. Im Gegenteil. Statt der jüdischen Gemeinde das Grundstück zurückzugeben, verhandelt die Stadt nicht mal mit ihr, sondern mit einer Jewish Trust Corporation for Germany (JTC) und schließt mit dieser Treuhandorganisation einen für Hamburg äußerst lukrativen Vergleich: Für geringste Summen überlässt die JTC der Stadt 150 „arisierte“ jüdische Grundstücke, viele davon in Toplage. Auch das Grundstück am Bornplatz sowie die benachbarte Talmud-Tora-Realschule bleiben in städtischem Besitz.

Ein skandalöser Vertrag, an dem auf Hamburger Seite übrigens genau derselbe Regierungsamtmann Hans-Jochen Rechter beteiligt ist, der schon in der NS-Zeit für den erzwungenen Verkauf jüdischer Grundstücke zuständig war. Was für eine teuflische Kontinuität!

Hamburg: Bornplatz-Synagoge soll wieder aufgebaut werden

Erst jetzt, 82 Jahre später, sieht es danach aus, dass die jüdische Gemeinde das zurückbekommt, was ihr sowieso zusteht: Im Februar 2020 haben der Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) und die Bürgerschaft den Weg frei gemacht für den Wiederaufbau der Bornplatz-Synagoge.

Wann es soweit sein wird, steht noch in den Sternen. Wegen eines denkmalgeschützten Weltkriegsbunkers auf dem Gelände muss zunächst eine Machbarkeitsstudie durchgeführt werden. Mit ihr ist aber noch nichtmal begonnen worden.

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