Prostitution, Theater, Kneipen: Kiez-Kenner mit düsterer Prognose für St. Pauli
Corny Littmann (59) war Präsident des FC St. Pauli und in den 80er Jahren als Politiker der Grünen aktiv. Er setzt sich seit Jahrzehnten für die Rechte von Homosexuellen ein, ist Schauspieler und Regisseur, Besitzer der Schmidt-Theater am Spielbudenplatz, Bar-Betreiber und Strippenzieher auf dem Kiez. Wenn einer sich rund um die Reeperbahn auskennt, dann er. Im MOPO-Interview wagt er einen Blick in die Zukunft der Spaß-Meile – und zeichnet ein düsteres Bild.
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Corny Littmann (69) war Präsident des FC St. Pauli und in den 80er Jahren als Politiker der Grünen aktiv. Er setzt sich seit Jahrzehnten für die Rechte von Homosexuellen ein, ist Schauspieler und Regisseur, Besitzer der Schmidt-Theater am Spielbudenplatz, Bar-Betreiber und Strippenzieher auf dem Kiez. Wenn einer sich rund um die Reeperbahn auskennt, dann er. Im MOPO-Interview wagt er einen Blick in die Zukunft der Spaß-Meile – und zeichnet ein düsteres Bild.
MOPO: Herr Littmann, kaum jemand kennt den Kiez so lange wie Sie, all die Umbrüche und Veränderungen. Wie ist aktuell die Lage?
Corny Littmann: Wir sind fast auf dem Stand von vor der Pandemie. Ob Spielbudenplatz, Große Freiheit, Hamburger Berg, Hans-Albers-Platz, Freitag und Samstag sind wieder Unmengen an Menschen unterwegs.
Ist es auch das gleiche Publikum wie vorher?
Ja, ein Querschnitt der Bevölkerung. Aber je nachdem, wo man ist, ist das Publikum sehr verschieden. Das ändert sich schon von einer Straßenseite der Reeperbahn zur anderen massiv.
War das schon immer so?
Dass sich das so deutlich aufteilt, fing vor etwa 20 Jahren an. Menschen gehen heute gezielter an bestimmte Stellen der Reeperbahn, die einen immer auf den Hans-Albers-Platz, die anderen auf den Hamburger Berg, am Spielbudenplatz ist ein völlig anderes Publikum als gegenüber, wo es eher ein, ich sag mal, niedrigschwelliges Getränkeangebot gibt.
Wie geht es Hamburgs bekanntestem Stadtteil, den Menschen die dort Leben und Arbeiten, wirklich? Was brauchen sie, was wünschen sie sich? Warum sind die Kiez-Kneipen in Gefahr und was macht den „Goldenen Handschuh“ so besonders? Dieser Text ist Teil unserer Sonderausgabe vom Kiez.
„Der Kiez war in den 80er kein Ort des Vergnügens“
Vor 30, 40 Jahren war der Kiez massiv von Gewalt geprägt, von Banden, Zuhältern, Rockern. Normale Bürger sind da nicht hingegangen. Ganz anders heute.
Ich bin kein Fan von Helmut Schmidt. Aber in den 80ern sagte er, „der Hamburger geht nicht auf die Reeperbahn“. Damit hatte er leider Recht. In den 70ern und der ersten Hälfte der 80er Jahre war das hier kein Ort des Vergnügens.
Es war die große Zeit der Zuhälter. Mit den merkwürdigen Namen, etwa der „Nutella-Bande“. Jetzt wandert die Prostitution immer stärker in andere Stadtteile, in private Wohnungen, vermittelt durchs Internet. Gibt es in 30 Jahren überhaupt noch Prostituierte auf St. Pauli?
Ich denke schon. Aber ich habe keine positive Vision der Zukunft. Wir werden „Opfer der Digitalisierung“, und das betrifft sämtliche Bereiche.
Wie das?
In London etwa feiert derzeit eine ABBA-Show unglaubliche Erfolge. Da treten keine Menschen auf, sondern aufwendig inszenierte Hologramme, die täuschend echt sind. Das ist nur die Spitze einer Entwicklung, die uns erwarten wird. Schon heute gibt es Restaurants ohne Kellner, sie bestellen am Bildschirm und ein Roboter bringt das Essen. Denken Sie das mal konsequent weiter. Sämtliche Dienstleistungen, auch die Prostitution, werden mehr und mehr von Maschinen geleistet werden. Keine schöne Aussicht. Und es stellt sich dann die Frage: Wer ist in der Lage, das nötige Geld zu investieren?
St. Pauli: Roboter bedienen, Hologramme sorgen für die Show
In der Kneipe steht künftig ein Roboter am Tresen? Oder bleibe ich gleich ganz zu Hause und treffe mich in einer virtuellen Kiez-Bar?
Zum Beispiel. Ich wüsste nicht, warum ausgerechnet der Kiez von dieser Entwicklung verschont bleiben sollte.
Was für eine Horrorvorstellung. Der Kiez lebt doch von den Menschen, die dort arbeiten, leben und feiern. Was passiert dann mit dem „Kiez-Volk“? Wird das weggentrifiziert?
Auf St. Pauli wohnen etwa 25.000 Menschen. Das wird sich nicht sehr verändern. Aber ob diese 25.000 noch in ihrer Nachbarschaft Arbeit finden, da habe ich meine Zweifel. Viele, die hier arbeiten, wohnen allerdings eh schon in anderen Stadtteilen. Eines möchte ich zum Thema „Gentrifizierung“ sagen, weil uns wegen der erfolgreichen Theater auch immer mal wieder der Vorwurf gemacht wird, solche Entwicklungen zu befeuern. Es wird ja oft gesagt: Der Kiez war doch in den 80er Jahren so schön, so romantisch, wir wollen den alten Kiez wieder haben. Ich habe in den 80er Jahren auf dem Kiez gelebt. Da gab es unzählige Peep-Shows. Bandenkriege. Wollt ihr das wirklich wiederhaben? Das einzige, was ich vermisse, was wirklich verloren ist, ist die Kinokultur. Es gab unzählige kleine Kinos hier. Dafür ist die Theaterkultur zurück. Und das hat eine große Ausstrahlung auch über Hamburg hinaus und strahlt wiederum auf die umliegenden Betriebe aus.
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Welche Branche steht jetzt am meisten unter Druck?
Die kleinen Lokale. Die haben rasant wachsende Kosten und ihre Klientel hat immer weniger Geld übrig. Ein Elbschlosskeller, ein Goldener Handschuh wird bestehen können, aber viele kleine Lokale in der unmittelbaren Umgebung, die werden nicht überleben.
Littmann: „Kneipensterben wird ein heftiger Schlag“
Wenn wir dann in 30 Jahren dem „alten Kiez“ hinterhertrauern, dann trauern wir den Kneipen nach? Die machen doch den Kiez erst wirklich aus!
Ja, viele werden verschwinden. Das wird ein heftiger Schlag für die Kiez-Kultur.
Wo jetzt der Knallermann ist mit seinen seltsamen Gestalten am Tresen, steht dann künftig digitalisierte Systemgastro internationaler Ketten, die eine Art Disneyland inszenieren und vor allem große Margen erwirtschaften wollen?
Das könnte kommen. Wobei das nicht unbedingt internationale Ketten sein müssen. Gibt ja auch lokale Größen, die, wo auch immer ihr Geld herkommt, hier investieren.
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Kann die Politik da irgendwas machen oder passiert das am Ende eh?
Ja, am Ende wird es passieren, weil die Politik nur geringe Einflussmöglichkeiten hat. Die Politik kann das Umfeld gestalten, die Reeperbahn für Autos sperren etwa, sie kann verzögern und Veränderungen erschweren, aber sie kann nicht bestimmen, wer welche Kneipe, welches Restaurant wie betreibt.
„Der Kiez war immer in Bewegung“
Klingt nicht sehr optimistisch, wie Sie die Zukunft sehen.
Naja, mein Blick in die Zukunft ist stark beeinflusst von der Tatsache, dass mein Leben endlich ist. Was in 30 Jahren ist, werde ich eher nicht mehr mitbekommen. Und derzeit steht der Kiez ja gut da und er ist auf einem guten Weg. Warum? Weil der Kiez historisch betrachtet immer in Bewegung war. Er war nie der gleiche Kiez, hat sich immer gewandelt. Wir zum Beispiel feiern große Erfolge mit unseren Stücken, planen eine Deutschlandtournee, investieren in neue Theaterstücke.
Mit echten Schauspielern oder Hologrammen?
Das Publikum kommt zu uns für eine authentische Erfahrung, um echte Menschen zu erleben. Das wird am meisten geschätzt und das wird auch so bleiben.