33 Jahre Wiedervereinigung: Viel ist gewachsen, aber nicht viel zusammen
Was würde Willy Brandt heute sagen? Am Tag nach dem Mauerfall 1989 versuchte sich der Alt-Kanzler am Berliner Rathaus Schöneberg als Visionär: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Heute müssen wir nüchtern feststellen: Gewachsen ist in den 33 Jahren seit der Wiedervereinigung viel – nur eben nicht zusammen. Doch warum nicht?
Was würde Willy Brandt heute sagen? Am Tag nach dem Mauerfall 1989 versuchte sich der Alt-Kanzler am Berliner Rathaus Schöneberg als Visionär: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Heute müssen wir nüchtern feststellen: Gewachsen ist in den 33 Jahren seit der Wiedervereinigung viel – nur eben nicht zusammen. Doch warum nicht?
Vielleicht auch, weil wir uns seit 33 Jahren etwas vormachen. War das wirklich eine Revolution, die da 1989 im Osten stattfand? Stürzten ostdeutsche Massen, von Freiheit und Demokratie beseelt, die Diktatur?
Zur größten Montagsdemos kamen 70.000 Menschen
Bei der größten Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989 – allgemein als „Game Changer“ bezeichnet, als letzter Sargnagel der SED-Herrschaft – waren schätzungsweise 70.000 Menschen auf Leipzigs Straßen. Das ist viel, auch anderswo gab es mutige Proteste. Doch gemessen an der Gesamtbevölkerung von 16 Millionen blieb es ein überschaubarer Teil der Ostdeutschen.
Dass die Macht der SED dennoch erodierte – war das nicht vor allem der Tatsache geschuldet, dass sie den Rückhalt des Kreml verlor? Und dass sich die Honeckers und Mielkes in ihrer dogmatischen Einfalt glücklicherweise als unfähig erwiesen, auf Krisen eigenverantwortlich und flexibel zu reagieren? Das Gros der Menschen im Osten – es blieb angesichts der Dynamik der Ereignisse passiv, abwartend, skeptisch.
Einer „Spiegel“-Umfrage zufolge sprachen sich noch Mitte Dezember 1989 70 Prozent der Ostdeutschen für ein eigenständiges Land aus. Erst Helmut Kohls legendärer Auftritt am 17. Dezember 1989 vor gut 100.000 „Deutschland, Deutschland“ skandierenden und Nationalfahnen schwenkenden Dresdnern brachte eine neue Dynamik in den Prozess. Und wirkt aus heutiger Sicht wie ein erster AfD- oder Pegida-Aufmarsch.
Helmut Kohl diktierte mit seinem Gespür für Geschichte das Tempo
Kohls Versprechen einer Währungsunion verbunden mit dem rapiden Verfall der in Auflösung begriffenen DDR wirkten wie ein Booster. Der Kanzler mit dem Gespür für Geschichte diktierte fortan das Tempo. Auch, weil Kohl in jenem kalten Winter des Wandels einen „Heizpilz“ anknipste, der stärker strahlte als die funkelnden Verheißungen von Demokratie und Freiheit: Er versprach die D-Mark. Statt „des eher technokratisch veranlagten 3. Oktober“, wie ihn der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk nennt, hätte das wiedervereinigte Deutschland den 1. Juli als Feiertag ausrufen sollen. Denn das war der Tag, an dem die D-Mark im Osten eingeführt wurde. Und die Ostdeutschen mutmaßlich am geschlossensten hinter dem Projekt Wiedervereinigung standen.

Wer die alte DDR kannte, den wundert das nicht. Zwar waren ins Land geschmuggelte „Westzeitungen“ – Spiegel oder Stern – begehrter Lesestoff. Mit größerer Begeisterung wurden im Mauerstaat aber die knallbunten, telefonbuchdicken „Westkataloge“ der heute längst verblichenen Versandhäuser Neckermann oder Quelle verschlungen, selbst wenn sie alt und abgegriffen waren. Verwerflich ist das nicht. Schon Bertolt Brecht wusste: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Und auch die Westdeutschen hatten sich erst zu guten Demokraten entwickelt, als die Läden voll, die Tische gedeckt waren.
Kohls Versprechen war eine bunte „Neckermann“-Welt
Kohl versprach den Menschen also die bunte Neckermann-Welt – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit sowie die Parteienlandschaft West gab‘s als Mitgift. Was dazu führte, dass sich die Ostdeutschen, anders als ihre ehemaligen Bündnisgenossen in Polen oder Tschechien, um die „Organisation“ der neuen Demokratie nicht kümmern mussten. Sich aber schnell an den neuen, bislang unbekannten Zumutungen stießen, die im Schlepptau der neue Freiheit kamen: Arbeitslosigkeit, Abzocke, Werbung, Parteienstreit, rechte Gewalt, Zuwanderung, eine irritierende Diversität, Drogen, dazu diese anstrengende Rechtsstaatlichkeit, die Entscheidungsfindungen verlangsamte, manchmal auch verhinderte, es gab neue Normen, Vorschriften, Rücksichten, Dinge wie Demonstrations- und Streikrecht – kurzum alles, was das Leben jenseits eines Käfigs bereithält.
Das wachsende Heer der Unzufriedenen, vielen ging es wirtschaftlich schlecht, versammelte sich für lange Zeit hinter einer Partei, die diese Reise in die bundesdeutsche Demokratie ablehnte – und bis heute das einzige Ost-Produkt im Parteienspektrum geblieben ist: die PDS, heute Linkspartei.
Das Fremdeln mit diesem System und die tiefe Unzufriedenheit – sie sind geblieben, eher noch gewachsen. Nur dass die Linke als Protestpartei mit ihren teils woken, im Osten schwer vermittelbaren Exkursen durch eine Bewegung ersetzt wurde, die viel umfassender die Sehnsüchte des zurückgelassenen und rückwärts gewandten Bevölkerungsteils zu bedienen scheint: die AfD.
Dass sich die Rechtsextremisten heute als authentische Ostpartei gerieren, ist grotesk, handelt es sich doch um eine Erfindung westdeutscher Wirtschaftsprofessoren. Bis heute geben in ihr Politikerinnen und Politiker mit lupenreinen Westbiographien den Ton an, abgesehen vom „Quoten-Ossi“ Tino Chrupalla. Ihre ideologischen Munitionslieferanten sitzen zwar im sachsen-anhaltinischen Schnellroda, sind aber auch nur aus dem Westen zugezogene Vollender des Uralttraums bundesrepublikanischer Nazis und Nationalkonservativer von einem Deutschland, welches national, antiwestlich, autoritär und als eigenständige Macht zwischen den Blöcken mäandert.
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Zurück zu Willys Verheißung: Warum ist in 33 Jahren nicht zusammengewachsen, was zusammengehört? Warum ist mehr als die Hälfte der Ostdeutschen unzufrieden mit dem politischen System? Warum halten es zwei Drittel gar für sinnlos, sich zu engagieren? Warum sind viele bereit, die Freiheit einem autokratischen Experiment zu opfern? Warum fehlt es an Empathie für die Menschen in der von Russland angegriffenen Ukraine, die doch nur das Leben führen wollen, was für Ostdeutsche seit 33 Jahren selbstverständlich ist? Warum haben vor allem im Osten viele Menschen Verständnis für den diktatorischen Kriegsverbrecher Putin?
Weil Mauern aus Stein einfacher zu Fall zu bringen sind als unsichtbare Mauern, die Menschen errichten, um sich dahinter vor der Wirklichkeit, zu verschanzen. „Die wichtigste Sozialisationsinstanz nicht zuletzt für politische Fragen ist der häusliche Abendbrottisch. Daran zerbricht jeder Unterricht, jede politische Bildung“, beschreibt der Historiker Kowalczuk.
Der Autor:

Harald Stutte, 1964 geboren in Leipzig, lebt seit 1985 in Hamburg. Nach seinem Abitur 1984 versuchte er mit Freunden, über Bulgarien aus der DDR zu fliehen und wurde inhaftiert. 13 Monate saß er als junger Mann in DDR-Gefängnissen, bevor er von der Bundesrepublik freigekauft wurde. Über diese Zeit hat Harald Stutte das Buch „Wir wünschten uns Flügel“ geschrieben, erschienen 2023 im Rowohlt-Verlag. Bis 2019 arbeitete der Autor fast 20 Jahre lang als Redakteur bei der MOPO, danach wechselte er zum Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND).