Vergewaltigung auf dem Schlagermove: Mein Peiniger soll nicht siegen
Vor knapp fünf Jahren wurde die 18-jährige Sophia am Rande des Schlagermoves vergewaltigt. Ihre Therapie gegen das Trauma lautete: Das Geschehene literarisch zu verarbeiten, um Frauen Mut zu machen, erfahrene sexualisierte Gewalt nicht zu verdrängen.
Es ist der eine Tag, der im Leben von Sophia Kroemer alles veränderte. Schlagermove 2017 in Hamburg. Die damals 18-jährige Schülerin aus Eppendorf feiert ausgelassen, trinkt, trinkt viel. Verliert ihre Freunde aus den Augen, mischt sich unter die Feiernden. Läuft mit einer fremden Clique mit, die sich auch verliert, nur einer der Jungs bleibt an ihrer Seite.
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Vor knapp fünf Jahren wurde die 18-jährige Sophia am Rande des Schlagermoves vergewaltigt. Ihre Therapie gegen das Trauma lautete: Das Geschehene literarisch zu verarbeiten, um Frauen Mut zu machen, erfahrene sexualisierte Gewalt nicht zu verdrängen.
Es ist der eine Tag, der im Leben von Sophia Kroemer alles veränderte. Schlagermove 2017 in Hamburg. Die damals 18-jährige Schülerin aus Eppendorf feiert ausgelassen, trinkt, trinkt viel. Verliert ihre Freunde aus den Augen, mischt sich unter die Feiernden. Läuft mit einer fremden Clique mit, die sich auch verliert, nur einer der Jungs bleibt an ihrer Seite.
Sophia Kroemer wurde auf dem Schlagermove vergewaltigt
Sophia ist arglos. Arglos auch noch, als er versucht, sie zu küssen. Als er sie in Richtung der aufgestellten Dixi-Klos bugsiert, weiß sie nicht warum. Soll sie ihm beim Pinkeln zuschauen?
Was dann passiert, begreift sie zuerst kaum, will es auch nicht begreifen. Erst als sie – Minuten danach – einer Freundin am Handy von den Schmerzen und von dem Blut erzählt, sagt diese ihr: „Du bist vergewaltigt worden.”
Freunde bringen sie in die Uniklinik, gleich um die Ecke von ihrem Zuhause. Die Ärzte schalten die Polizei ein. Noch in der Nacht wird sie verhört. Eine Beamtin stellt ihr Fragen. Viele Fragen. Und in fast jeder Frage schwingt die Unterstellung mit, sie habe es provoziert, eingewilligt, sich zumindest nicht gewehrt. So betrunken, wie sie sei. So, als dürfe Man(n) ein Mädchen einfach missbrauchen, nur weil es zu tief ins Glas geschaut hat.
Hilfe von der Polizei? Fehlanzeige
Die Befragung wird zum Verhör, das Verhör zur Tortur. Nur die Frage, wie es Sophia, die inzwischen starke Schmerzen hat, geht, diese Frage stellt die Polizistin kein einziges Mal. Und dem jungen Beamten, der sie schließlich am frühen Morgen heimbringt zu ihren Eltern, rutscht noch die Bemerkung raus, da werde wohl niemand belangt werden, so betrunken, wie sie war.
Knapp fünf Jahre ist es her, dass Sophia Kroemer missbraucht wurde. Seitdem lebt sie mit dieser Bürde. Ist, wie der Titel ihres Buches über die Bewältigung dieses Traumas heißt, „Dieselbe und doch nicht die Gleiche”. Zuerst versucht Sophia darüber zu sprechen, mit Freunden, auch mit ihren Eltern, zieht sich dann immer mehr in sich zurück. Versucht zu funktionieren, die Schule weiterzumachen, das Abi vor Augen, und bricht dann doch ab. Irrlichtert von Therapeutin zu Therapeutin, auf der Suche nach professioneller Hilfe.
Scham und Schuldgefühle wachsen in ihr, verweben sich zu Selbsthass bis hin zu Suizidgedanken. Eine innere Instanz gibt ihr nun – wie einst die Polizistin mit ihren suggestiven Fragen – eine Mitschuld an dem, was geschehen ist. Sie kämpft dagegen an, weiß, dass das nicht stimmt, will sich nicht selbst zerfleischen, wird schwächer und liefert sich – am Ende ihrer Kräfte – in eine psychiatrische Klinik ein.
Hier muss sie sich immer wieder mit dem konfrontieren, was geschah, sich immer wieder ihren eigenen Missbrauch anschauen. Hinzuschauen braucht Kraft. Kraft, die Sophia kaum noch hat. „Es war sehr, sehr anstrengend, immer wieder in das Geschehen einzutauchen”, sagt sie heute.
Sophia Kroemer hat ihr Trauma im Buch „Dieselbe und doch nicht die Gleiche” verarbeitet
In der Klinik beginnt sie zu schreiben. Ordnet ihre Gedanken und schafft dabei Distanz zu ihrer eigenen Geschichte, indem sie ihr literarisches Ebenbild Sakari zwar mit der eigenen Gefühlswelt, aber mit einem komplett anderen familiären Umfeld und einem anderen Freundeskreis ausstattet. So gelingt es ihr, den Abstand zu finden, den sie braucht, um ihre Geschichte aufzuschreiben und ihre Liebsten zu schützen. Und sie stellt Sakari Kari gegenüber, ein Alter Ego, eine Sakari ohne den Stempel des Traumas, ohne Wunden, ohne Schmerz, pfiffig, unbelastet, fröhlich und voller Zuversicht und ansteckendem Humor. Mit Karis Hilfe kämpft sich Sakari hinaus aus der Dunkelheit. Schritt für Schritt.
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„Schreiben war einfacher als darüber zu reden”, sagt das Mädchen mit den blau gefärbten Haaren heute. Im Gespräch sei es „oft schwierig, spontan die richtigen Worte zu finden”, für etwas, das eigentlich unaussprechlich ist. Das Schreiben gibt Sophia „einen Sinn und eine Struktur”, sie hat das Gefühl, sie habe „eine Aufgabe, etwas zu erledigen”, und will „aus etwas Schrecklichem etwas Schönes” schaffen.
Zuerst verarbeitet Sophia das Geschehene so ganz für sich, erst als sie ihrer Mutter, einer erfahrenen Redakteurin, das Skript zu lesen gibt, entsteht die Idee, das Geschriebene zu veröffentlichen. Über eine Freundin der Mutter ist bald ein Literaturagent gefunden, kurz darauf ein Verlag. Im März 2021 kommt „Dieselbe und doch nicht die Gleiche” in die Buchhandlungen.
Therapie durch das Schreiben
Nun sitzt Sophia in Talkshows, gibt Interviews, hält Lesungen ab. Dadurch „kann ich das Thema nie richtig ruhen lassen, aber es geht mir nicht schlecht dabei”, sagt Sophia. Es gehe ihr „inzwischen zwar viel besser”, doch da sei „ein Schatten, den ich immer mit mir trage, ein Misstrauen, gegenüber Menschen, die es nicht verdient” hätten.
Das Trauma hat sich nicht aufgelöst, doch inzwischen kann die 23-Jährige, die heute in einem Fotostudio jobbt, besser damit umgehen. Dass der Täter noch immer frei herumläuft, ist für sie schwer zu ertragen, weil da immer die Ahnung ist, er könnte wieder zuschlagen.
Was Sophia Frauen empfiehlt, die Opfer sexualisierter Gewalt werden? „Sich sofort professionelle Hilfe zu suchen und das Geschehene nicht zu verdrängen oder in Alkohol zu ertränken”, antwortet sie spontan und überlegt dann kurz vor ihrem nächsten Satz. „Nach den Erfahrungen, die ich gemacht habe, fällt es mir schwer, einer Frau zu raten, sich an die Polizei zu wenden, obwohl das so wichtig ist.”
Und wenn sie sich etwas wünschen darf, dann das: „Dass sexuelle Belästigungen endlich ernst genommen und Frauen nicht die Mitschuld an allem gegeben wird, was ihnen angetan wurde.” Um dafür zu kämpfen, hat Sophia ihre eigene Geschichte erzählt und ihre eigenen Wunden offengelegt.
Sophia Kroemer: „Dieselbe und doch nicht die Gleiche”, Fischer-Verlag, 15 Euro.
Lesung: Sophia Kroemer: 10. Mai, 19.30 Uhr, „Gausz”, Gaußstraße 60, gausz-ottensen.de