• Verkleidet als Obdachlose: MOPO-Reporter Volker Schimkus (l.) und Olaf Wunder. 
  • Foto: MOPO

Undercover im Obdachlosen-Asyl: Best of MOPO: Unsere Horror-Nacht im „Pik As“

Neustadt –

Es stinkt nach Schweiß, Urin und Alkohol. Menschen saufen, furzen, rülpsen, pöbeln. Und sie schnarchen, als müsste über Nacht der ganze Sachsenwald dran glauben. Es stehen, sitzen und liegen Männer um uns herum, die gezeichnet sind. Vom Leben im Freien. Vom Alkohol. Von Gewalt. Und grenzenloser Hoffnungslosigkeit.

Das „Pik As“ – ein „Hotel“ der ganz speziellen Art. Das Bett ist umsonst. Der Kaffee auch. Die Menschen stehen Schlange. Nachts haben wir jetzt Temperaturen von minus 5 Grad und kälter. Selbst die, die ein Leben im Freien vorziehen, unter der Kennedybrücke etwa oder im Eingang eines Kaufhauses, suchen vermehrt Hamburgs berühmtestes Obdachlosenasyl in der Neustädter Straße auf. Das feiert übrigens Jubiläum. 100 Jahre alt wird es im Oktober. Aber ob das ein Grund zu feiern ist?

Hamburg: MOPO-Reporter undercover im „Pik As“

Fünf Tage haben wir uns nicht rasiert, haben gute Ratschläge („Ihr holt Euch was Ansteckendes!“) in den Wind geschlagen – und sind ins „Pik As“ gegangen. Der Mann am Empfang ahnt nicht, dass wir MOPO-Reporter sind, ist aber trotzdem unerwartet höflich. Als er sagt, dass er kein Bett mehr für uns hat, ist ehrliches Bedauern zu spüren. „Wir sind voll. Wenn ihr bleibt, müsst ihr auf dem Boden schlafen.“

„Pik As“ – ursprünglich war das 1913 fertiggestellte Gebäude an der Neustädter Straße das „Polizeiasyl“.

„Pik As“ – ursprünglich war das 1913 fertiggestellte Gebäude an der Neustädter Straße das „Polizeiasyl“. Aus der Amtsbezeichnung „P.As.“ wurde im Volksmund bald „Pik As“.

Foto:

MOPO

Wir nehmen jeder eine Klopapierrolle, zwei Wolldecken und ein Handtuch in Empfang und suchen uns einen Platz. Keine leichte Aufgabe. Sogar die langen neondurchfluteten Flure sind voll. Denn auf 210 Betten kommen in dieser Nacht 320 Obdachlose. Und da niemand abgewiesen werden darf – er könnte sonst erfrieren – liegen die Leute überall, dicht an dicht gedrängt.

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Obdachlosen-Asyl in Hamburg: Wir lernen Friedrich kennen

Wir lernen Friedrich kennen, einen Mittsechziger. Er hat immer einen witzigen Spruch auf den Lippen. Er erzählt uns beispielsweise, wie es ihm gelingt, jeden Tag ein hübsches Sümmchen Geld zu erbetteln. „Ich setzte mich einfach vor eine Bank und dann sag ich zu den Leuten: ,Haben Sie mal einen Euro, kriegen Sie auch garantiert morgen nicht zurück!‘“ Er behauptet, das klappe immer. Wir lachen. Er lacht. Und schließlich schläft er irgendwann mit seiner Schnapsbuddel ein.

Hinterm Empfangstresen im „Pik As“ hängt dieser Sinnspruch.

Hinterm Empfangstresen im „Pik As“ hängt dieser Sinnspruch.

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Olaf Wunder

Gegen Mitternacht kommt der Mann vom Empfang zu uns: „Ihr beide“, zwinkert er, „kommt mal mit.“ Er habe jetzt doch noch zwei Betten frei. Er schickt uns zu Zimmer 303. Als wir den Raum betreten wollen, wird die Tür von innen zugehalten. Dann streckt jemand seinen Kopf heraus: Und als wir ihm sagen, dass wir hier schlafen sollen, schaut er uns auf den Kopf? „Habt Ihr Läuse? Seid Ihr deutsch?“ Als wir das eine verneinen, das andere bejahen, dürfen wir rein.

Unterkunft: Die Nacht im „Pik As“ wird zum Horror

Aber schon bald wird uns klar, dass der Flur die bessere Wahl gewesen wäre. Denn die Nacht wird zum Horror. Alle anderen im Raum sind Polen in Feierlaune. Die Rumflasche kreist. Es wird lauter. Und immer aggressiver. Gebrülle. Türenschlagen. Am Ende muss die Polizei kommen, weil einer dem anderen so sehr eins übergebraten hat, dass ein Nasenbein nicht standhielt.

Das „Pik As“ ist, so erzählt ein Angestellter, der „Friedhof großer Lebensträume“. „Wir werden überlaufen von Osteuropäern, die zu uns gekommen sind, weil sie dachten, dies hier sei das gelobte Land. Dann aber laufen sie überall vor die Wand und landen schließlich im ,Pik As’. Frust, Alkohol, Gewalt. Das eine ergibt das andere.“

Der Morgen graut. Was uns angeht, können wir dem „Pik As“ den Rücken kehren. Für immer. Andere werden sich am Abend erneut einen Platz auf dem Fußboden suchen müssen. Wie Jonas, ein 35-Jähriger, der Hilfe braucht, aber immer nur weggestoßen wird. Nach zehn Jahren ist er im Dezember aus der Haft entlassen worden. Er möchte ein ehrliches Leben beginnen. Will arbeiten, eine richtige Wohnung haben. Aber statt ihm dabei zu helfen, hat ihn die Resozialisierung direkt ins „Pik As“ verfrachtet. Er ist zornig und hoffnungslos. „Ich bringe Euch alle um“, brüllt er und randaliert. „Ist mir doch scheißegal.“

Der Artikel ist eine Geschichte aus unserem Archiv und erstmals am 26. Januar 2013 in der Hamburger Morgenpost erschienen. In unregelmäßigen Abständen kramen wir in unserem Archiv und suchen Stücke heraus, die auch heute noch lesenswert sind.

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