„Und durchgefallen“: Mein Wahnsinns-Ritt zum Führerschein in Hamburg
„Du hättest gerade schon wieder einen Radfahrer getötet“, sagt meine Fahrlehrerin und tippt demonstrativ an die rechte Scheibe. „Wo war dein Schulterblick“? Ja, wo war mein Schulterblick? Ich hab‘ mich auf den Zebrastreifen, die Fußgänger, die parkenden Autos, diverse Verkehrszeichen, eine Bushaltestelle und den Kreisverkehr vor mir konzentriert und nicht gesehen, dass neben mir ein Radweg endet. Das war der erste Radfahrer in dieser Fahrstunde, der meine Fahrweise im Ernstfall nicht überlebt hätte. Er wird nicht der Letzte gewesen sein. Den Führerschein in Hamburg zu machen – der totale Horror.
- Deutsch (Deutschland)
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„Du hättest gerade schon wieder einen Radfahrer getötet“, sagt meine Fahrlehrerin und tippt demonstrativ an die rechte Scheibe. „Wo war dein Schulterblick“? Ja, wo war mein Schulterblick? Ich hab‘ mich auf den Zebrastreifen, die Fußgänger, die parkenden Autos, diverse Verkehrszeichen, eine Bushaltestelle und den Kreisverkehr vor mir konzentriert und nicht gesehen, dass neben mir ein Radweg endet. Das war der erste Radfahrer in dieser Fahrstunde, der meine Fahrweise im Ernstfall nicht überlebt hätte. Er wird nicht der Letzte gewesen sein.
Nirgends fallen mehr Fahrschüler durch als bei uns in Hamburg. Wie der TÜV erst kürzlich bekanntgegeben hat, liegt die Quote bei praktischen Prüfungen bei 45 Prozent. Damit ist die Hansestadt deutschlandweites Schlusslicht. Ich möchte die Quote verbessern. Aktuell bin ich von einer bestandenen Prüfung allerdings noch ein gutes Stück entfernt.
Fast jeder zweite Hamburger fällt durch die praktische Fahrprüfung
Ich bin 20 Jahre alt. Seit zwei Monaten übe ich für die Fahrprüfung. Eigentlich brauche ich keinen Führerschein. Ich wohne in der HafenCity. Zwei U-Bahn-Stationen sind in der Nähe, dazu der Bus der Linie 111. Selbst wenn S- oder U-Bahnen mal wieder streiken, komme ich überall problemlos hin – auch ohne Auto.
Wenn mich jemand darauf anspricht, sage ich meistens, dass ich den Führerschein „aus beruflichen Gründen“ mache. Oder nicht darauf warten will, dass es noch teurer wird. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere lautet: Gruppenzwang. Im Freundeskreis, der Familie … In meinem Alter wird man drei Sachen gefragt: Hast du einen Freund/Freundin? Was studierst du? Hast du deinen Führerschein schon gemacht?
50 Fahrstunden braucht ein Fahrschüler im Durchschnitt
Zweimal pro Woche bin ich in der Fahrschule. Vorher muss jedes Mal aufs Neue das Konto geplündert werden. 130 Euro für 90 Minuten – da schmerzt jeder Gang zum Geldautomaten. 50 Stunden braucht ein Fahrschüler im Schnitt bis zur erfolgreichen Prüfung. Ich dachte immer, ich sei ein Naturtalent. Ich werde gerade so viele Stunden brauchen, wie vorgeschrieben und dementsprechend günstiger davonkommen. Ich habe mich geirrt.
Meine Fahrlehrerin greift mir mal wieder ins Lenkrad. Ich weiß nicht, zum wievielten Mal in dieser Stunde. Ich bin an einem parkenden Lkw vorbeigefahren und habe den Abstand falsch eingeschätzt. „Das war so knapp“, sagt sie und zeigt mit ihren Fingern, dass nicht mal ein Zwei-Euro-Stück zwischen uns und den Außenspiegel gepasst hätte. „Und bitte nicht gegenlenken.“ Ich lenke gar nicht gegen! Meine Hände verkrampfen einfach, je häufiger ich den Verkehr falsch einschätze. Inzwischen habe ich auch noch einen weiteren endenden Radweg übersehen – auch das hätte einen schweren Unfall mit einem Radfahrer bedeuten können.
Verkehrssituation in Großstädten gilt als besonders schwierig
Die Verkehrssituation in einer Großstadt wie Hamburg gilt schon lange als besonders anspruchsvoll. „Die Komplexität des Straßenverkehrs ist in den letzten Jahren immer weiter gestiegen, besonders in den Großstädten“, erklärt Claudius Marchand, Inhaber der „Fahrschule St. Pauli“. „Die Verkehrssituation in der Innenstadt ändert sich jede Sekunde. Da kannst du noch so oft dieselbe Strecke fahren, es ist jedes Mal anders. Das macht es für den aufgeregten Schüler nicht leichter.“
Es gebe hamburgweit aber auch große Unterschiede. In Langenhorn zum Beispiel sei es deutlich leichter, die Prüfung zu bestehen als im verkehrsreichen Altona, so Marchand.
„An der nächsten Ampel wollen wir links abbiegen“, sagt meine Lehrerin. Also: Blinker setzen, absichern, bloß den Schulterblick nicht vergessen und dann zügig rüber. Wir sind fast da. Ich muss nur noch einparken. Einparken ist das Einzige, was ich einigermaßen schnell konnte und das, obwohl ich vorher auf dem Verkehrsübungsplatz mehr als einmal die Reifenstapel umgefahren habe.
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Ich hab’s geschafft, zumindest für heute. Ich öffne mit meiner linken Hand die Fahrertür. „Und durchgefallen“, höre ich vom Beifahrersitz. Die Fahrertür muss immer mit der rechten Hand geöffnet werden, damit man sieht, ob von hinten jemand kommt – zum Beispiel auf dem Fahrrad.
Das wäre Radfahrer Nummer drei gewesen. In der Stunde. Eine winzige Verbesserung immerhin. Letzte Woche waren es noch vier.