Ukrainischer Journalist: „Wir stehen auf der Kippe zum Weltkrieg“
Aleksei Bobrovnikov ist ein ukrainischer Journalist. Vor fünf Jahren musste er aus seiner Heimat fliehen. Nachdem er einen Waffenschmuggel von ukrainischen Militärs an die russische Armee im Donbass-Gebiet aufgedeckt hatte, wurde er mit dem Tod bedroht. Er bekam politisches Asyl in Deutschland und war Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte. Seit ein paar Monaten lebt der 42-Jährige in Tiflis (Georgien). Die MOPO traf ihn am Freitag während eines Hamburg-Besuchs im Schanzenviertel.
MOPO: Herr Bobrovnikov, Sie mussten aus Ihrer Heimat fliehen, lange bevor Putin in die Ukraine einmarschiert ist. Hat der russische Präsident recht damit, die Ukrainer vor ihrer Regierung schützen zu müssen?
- Deutsch (Deutschland)
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Aleksei Bobrovnikov ist ein ukrainischer Journalist. Vor fünf Jahren musste er aus seiner Heimat fliehen. Nachdem er einen Waffenschmuggel von ukrainischen Militärs an die russische Armee im Donbass-Gebiet aufgedeckt hatte, wurde er mit dem Tod bedroht. Er bekam politisches Asyl in Deutschland und war Gast der Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte. Seit ein paar Monaten lebt der 42-Jährige in Tiflis (Georgien). Die MOPO traf ihn am Freitag während eines Hamburg-Besuchs im Schanzenviertel.
MOPO: Herr Bobrovnikov, Sie mussten aus Ihrer Heimat fliehen, lange bevor Putin in die Ukraine einmarschiert ist. Hat der russische Präsident recht damit, die Ukrainer vor ihrer Regierung schützen zu müssen?
Bobrovnikov: Um Himmels Willen! Es ist sicher nicht alles perfekt in der Ukraine. Das Justizsystem funktioniert nicht gut. In den Strafverfolgungsbehörden und in der Verwaltung gibt es viel Vetternwirtschaft. Das Militär ist korrupt. Aber wir sind eine Demokratie. Wir sind auf einem guten Weg. Und das sage ich Ihnen als Flüchtling. Putin führt einen Angriffskrieg, um seinen Großmachtdurst zu stillen.
Was meint Putin, wenn er die ukrainische Regierung als neofaschistisch bezeichnet?
Das ist ein Mythos, der in Russland seit 1945 bedient wird. Es ist das Bild von Russland als Befreier Europas von Faschismus und Diktatur. Das ist eine Art Staatsideologie, die seit Jahrzehnten alles zusammenhält. Die Medien verbreiten diesen Mythos, bei dem Putin zum heldenhaften Kämpfer gegen Nazis und Diktatoren wird. Im Fall der Ukraine ist das speziell widerlich. Schon allein weil Selenskij Jude ist. Hier wird der Vorwand endgültig absurd.
Wie bewerten Sie die Rolle von Präsident Selenskij?
Selenskij steht für einen Neuanfang. Es ist ihm gelungen, das System von Seilschaften in der Ukraine abzuschaffen, das die Präsidentschaften vor ihm prägten. Selenskij ist ein Politik-Neuling, die Menschen kennen ihn aus dem Fernsehen. Er ist beliebt. Er genießt Vertrauen und sorgt für Zusammenhalt. Jetzt durch den Krieg umso mehr.
Was meinen Sie damit? Ist die ukrainische Gesellschaft gespalten? Trennt die russisch- und ukrainischsprechenden Bevölkerungsgruppen nicht nur die Sprache, sondern auch die Zugehörigkeit zum Osten bzw. zum Westen?
Das ist ein Bild, das Putin verbreiten möchte. Aber es ist falsch. Die ukrainische Gesellschaft ist nicht gespalten. Mein Vater ist Russe. Russisch ist meine Muttersprache. Ich bin trotzdem ein hundertprozentiger ukrainischer Patriot. So wie auch die Soldaten der ukrainischen Armee. Die große Mehrheit von ihnen hat russisch zur Muttersprache. Und sie leisten erbitterten Widerstand gegen die Russen.
Putin lässt auf diejenigen schießen, die er zu befreien vorgibt?
Exakt. Eines der ersten Opfer dieses Krieges war der russischsprachige ukrainische Militäroberst Anton Sidorov. Putin tötet seine eigenen Leute. Er ist geisteskrank.
Wie fühlt es sich für Sie an, in dieser Situation nicht zu Hause sein zu können?
Es ist schlimm für mich. Ich würde gerne an vorderster Front stehen und gegen Putins Truppen kämpfen. Aber ich würde mein Leben schon bei der Einreise riskieren.
Was tun Sie vom Exil aus?
Ich habe während meiner Zeit in Deutschland ein Buch über die Schmuggelgeschäfte im Donbass geschrieben. Dabei geht es auch um Putins fortwährende Strategie, die gesamte Schwarzmeer-Region zu destabilisieren. Ich schreibe auch regelmäßig für die „Nowaja Gaseta”, eine der wenigen verbliebenen unabhängigen Zeitungen in Russland und bringe Dinge ans Licht, über die sonst keiner schreibt.
Was empfinden Sie, wenn Sie im Fernsehen die Bilder von den Demos weltweit für die Ukraine sehen?
Es berührt mich sehr. Die Welt hat endlich verstanden, was hier passiert. Keiner glaubt der russischen Propaganda mehr. Ich bin eigentlich kein Aktivist. Aber letzte Woche war ich auf einer Demo in Tiflis. Die Georgier haben gerufen: „Stoppt Putin”, die Russen riefen: „Kein Krieg!“, die Ukrainer: „Sieg der Ukraine” und die Belarussen: „Lang lebe Belarus”. Es hat mich überwältigt. Es war ein ganz starkes Gefühl.
Was erwarten Sie von der internationalen Gemeinschaft?
Ich verdanke Deutschland viel, aber letzte Woche war ich sauer. Die Bundesregierung war viel zu zögerlich, was Swift und die Waffenlieferungen anging. Da ist viel Naivität gegenüber Russlands Großmachtstreben in den Ex-Sowjetrepubliken. In Georgien und Belarus findet die Eroberung schleichend statt. In der Ukraine jetzt per Überfall. Die Ukraine braucht schnelle Hilfe. Wir brauchen noch mehr Waffen im Kampf gegen das Monster. Darüber hinaus muss Russland wirtschaftlich komplett isoliert werden. Die russische Bevölkerung muss spüren, was der Präsident ihr antut. Das System muss von innen geschwächt werden und implodieren. Das ist die einzige Chance.
Für wie gefährlich halten Sie Putins Schritt, die Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen?
Das ist sehr, sehr ernst. Es ist nicht nur eine Drohung. Wir stehen auf der Kippe zu einem Weltkrieg.