Turbojugend auf dem Hamburger Kiez: Kutten, nackte Popos und Dosenbier
Einmal im Jahr überschwemmen sie den Kiez. Die hemmungslos feiernden Jeanskutten-Träger mit den knallroten Lippen, geschminkten Augen und Matrosenmützen. Ein auf Außenstehende zuweilen seltsam anmutendes Völkchen. Das fand auch Christian Zuckmayer (55). „Ich habe die bei den ,Weltturbojugendtagen‘ immer argwöhnisch betrachtet. Als Zaungast denkt man, dass sie ein ganz schönes Rad abhaben.“ Insbesondere, das Präsentieren der nackten Hinterteile. Heute trägt der Kiezianer selber Kutte und ist stolzes Mitglied der Turbojugend St. Pauli. Das Chapter, mit dem vor 26 Jahren alles begann.
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Einmal im Jahr überschwemmen sie den Kiez. Die hemmungslos feiernden Jeanskutten-Träger mit den knallroten Lippen, geschminkten Augen und Matrosenmützen. Ein auf Außenstehende zuweilen seltsam anmutendes Völkchen. Das fand auch Christian Zuckmayer (55). „Ich habe die bei den ,Weltturbojugendtagen‘ immer argwöhnisch betrachtet. Als Zaungast denkt man, dass sie ein ganz schönes Rad abhaben.“ Insbesondere, das Präsentieren der nackten Hinterteile. Heute trägt der Kiezianer selber Kutte und ist stolzes Mitglied der Turbojugend St. Pauli. Das Chapter, mit dem vor 26 Jahren alles begann.
Ohne Kiez keine Turbojugend. Der weltweit erste Fanclub der norwegischen Death-Punk Band Turbonegro entstand auf St. Pauli. Im „Schlemmereck“ auf dem Hamburger Berg. Der Turbojugend-Legende nach habe sich eine Gruppe von Freunden in der Kneipe getroffen. Mit dabei: „Ärzte“-Punker Bela B. „Irgendwann soll er zehn benähte Jeansjacken mitgebracht haben. Der Anfang der Turbojugend.“ Das war 1996. Mittlerweile gibt es weltweit Turbojugenden. Von Europa über Australien, USA und Mexiko bis nach Japan. Bis zu 30.000 Kuttenträger in etwa 2500 Gruppen – den sogenannten Chaptern.
Christian glaubt nicht, dass alle Mitglieder auch Hardcore-Fans der Band sind. Vielmehr stehe der Spaß im Vordergrund. „Wenn sie die Kutte tragen, können die Turbojugendlichen in ein anderes Leben schlüpfen und auch mal so richtig die Sau rauslassen.“ Musikgeschmack, Lebensumstände, Job – das spielt keine Rolle. Einzig die politische Richtung ist wichtig. „Man darf dem rechten Rand nicht nahestehen“ erklärt der gelernte Kameramann und nimmt ein Schluck Bier aus der Dose. Es habe schon Chapter gegeben, die nach rechts abgedriftet seien. In Schweden wurde eine Fan-Gruppe aufgelöst. „Wenn man auf Fotos mit Hitlergruß auftaucht, fliegt man ziemlich schnell aus der Turbojugend raus.“
Kiezmenschen: Turbojugend in Hamburg
Ansonsten sei eigentlich fast alles erlaubt. Allerdings gibt es ein paar Regeln und Rituale. Jedes Mitglied wird in ein internationales Register eingetragen und muss sich einen „Warrior-Name“ zulegen. Christian hat „Zuke Of Destruction“ gewählt, weil ein Freund aus Los Angeles seinen Spitznamen „Zucky“ nicht aussprechen konnte und immer „Zuke“ sagte. „Destruction, die Zerstörung, hörte sich dazu einfach unglaublich cool an.“
Alle Namen, wie auch das jeweilige Chapter, prangen auf der obligatorischen Jeanskutte. Dem Allerheiligsten – für das es ebenfalls eine Regel gibt: Die Kutte darf nicht gewaschen werden. „Nach ein paar Jahren mit vielen Partys nimmt die einen sehr würzigen Geruch an“, sagt Christian laut lachend. Er glaubt, dass die Jeansjacken unter der Hand aber schon ab und an mal in der Maschine landen. Seine vier Kutten sind aber noch im Originalzustand. „Wenn mir einer draufkotzt, würde ich jedoch definitiv eine Ausnahme machen.“
Schminken, sich verkleiden – bei der Turbojugend normal
Zucky sieht die ungeschriebenen Gesetze nicht so eng. Auch beim Präsentieren nackter Hintern hält er sich raus. Dabei gibt es auch da ein Ritual: Wenn nachts während des Feierns jemand fragt, wie spät es ist, müssen alle die Hosen runterlassen. „Ich denke mal, das kommt durch diese homosexuelle Attitüde von Turbonegro, die sie schon immer präsentiert haben.“ Sich schminken, verkleiden – das ist bei der Turbojugend normal. Wie genau das „homosexuelle Gebaren“ gemeint ist, kann Christian nicht sagen. „Wir sind auf jeden Fall strikt gegen Homophobie.“
Als er noch nicht „Zuke Of Destruction“ war, kannte Christian die Turbojugend nur von den jährlichen „Weltturbojugendtagen“ auf dem Kiez. Zwar mochte er die Musik, aber der St. Paulianer war bloß als Zaungast dabei. Als Stammgast des „Schlemmerecks“ lernte er die Mitglieder richtig kennen und wurde vor zwölf Jahren Teil der Szene. Das „Headquarter“ der Turbojugend entwickelte sich schnell zu seinem Wohnzimmer. Nahezu jeden Tag kehrte er in der Kneipe von Wirt Herbert Stender ein. „Außer montags und dienstags. Da hatten sie zu. Die schlechtesten Tage der Woche“, sagt der Mann mit dem Schnauzer lachend. Die schönsten Stunden hatte er, wenn im Laden nichts los war. „Dann hat der Alte immer ausgepackt und Seemannsgarn erzählt.“
Christian Zuckmayer von der Turbojugend St. Pauli
Christian erinnert sich noch an eine Geschichte aus Panama. Der Wirt, der 40 Jahre zur See gefahren war, ging von Bord und zog durch Kneipen und Bordelle. Irgendwann so besoffen, dass er das Schiff verpasste. „Da musste er mit dem Taxi durch halb Panama hinterherjagen.“ Christian schüttelt grinsend den Kopf. Er liebte die alten Geschichten von Herbert. Ein richtiger Freund sei der Wirt über all die Jahre geworden. Er war immer da und kümmerte sich. Als Christian noch keine Waschmaschine hatte, bestand der Wirt sogar darauf, dass er seine Wäsche im „Schlemmereck“ wäscht.
Seine knochige Stimme. Sein ehrliches Wesen. Das fehlt Christian noch immer. Im Herbst 2017 starb Herbert Stender – an multiplem Organversagen. Der Tod des Wirts war auch für die Turbojugend ein herber Schlag. „Er war der Godfather des Vereins und hatte als Einziger eine mit Gold bestickte Kutte.“ Nach seinem Tod versuchten Turbojugendliche die Kneipe weiterzuführen – als Betreiber unter einem neuen Pächter. „Das lief gar nicht schlecht. Aber es schien dem Pächter nicht zu reichen.“ Die Kult-Kneipe musste 2019 schließen.
Turbojugend traf sich im „Schlemmereck“
Heute vermeidet es Christian, am „Schlemmereck“ vorbeizugehen. „Wenn es aus Versehen doch mal passiert, mag ich gar nicht hingucken. Mittlerweile ist es genau so ein Laden, wie ihn Herbert niemals gewollt hätte. Eine Ballerbude.“ Ganz schön bitter für Christian. Besonders jetzt, wo die „Weltturbojugendtage“, die immer mit reichlich Bier und Fako (Fanta-Korn) bei Herbert gefeiert wurden, wieder anstehen. Vom 4. bis 6. August findet das vom St. Pauli-Chapter organisierte, weltweit größte Treffen der Turbojugend statt. Erwartet werden bis zu 600 Mitglieder. Neben Konzerten steht auch tagsüber Programm wie Minigolf und Cocktailtrinken an.
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Etliche Bands treten im Molotow auf. Die, um die es eigentlich geht, allerdings nicht. „Früher waren Turbonegro öfter mal zu den ,Weltturbojugendtagen‘ hier. Dann waren wir nach den Konzerten gerne noch im ,Schlemmereck‘ zusammen feiern.“ In einer solchen Nacht verschwand der mittlerweile verstorbene Sänger Hank von Hell einmal und war unauffindbar. „Ganz schwierig, wenn du auf Tour bist und der Sänger ständig gesucht werden muss. Das kam wohl häufiger vor.“
Weltturbojugendtage Hamburg in der „Doppelschicht“
Kein Turbonegro. Kein „Schlemmereck“. Und trotzdem freut sich Christian auf das große Treffen. In diesem Jahr findet es in der „Doppelschicht“ am Hein-Köllisch-Platz statt. Eine Nachbarschafts-Kneipe, in der sich die Turbojugend St. Pauli regelmäßig trifft. Praktisch für Christian, der direkt um die Ecke wohnt. Für ihn der einzige Ort, an dem er leben möchte. Der Kameramann, der hauptsächlich bei großen Veranstaltungen dreht, lebte schon in München, Berlin und Kiel. Zuletzt dann in Lübeck, wo seine Kinder aufwuchsen. „Das ist eine schöne Stadt, aber es wurde mir zu klein. Wenn ich auf St. Pauli bin, fühle ich mich frei. Hier kann ich machen, was ich will. Es wird alles akzeptiert und toleriert.“
Seit zehn Jahren wohnt der Vater drei erwachsener Töchter alleine auf dem Kiez. In einer Wohnung mit Blick auf den Hafen. An der Wand eine Flagge des FC St. Pauli. Auf dem Wohnzimmertisch die alten Bierdeckel vom „Schlemmereck“. „Das sind die letzten. Schon ein wenig fleckig. Aber ich passe auf, dass nichts draufläuft.“ Für ihn nicht nur ein Andenken an Herbert und seinen Laden. Auch an die anderen urigen Kneipen mit den Knurrhähnen hinterm Tresen, von denen es immer weniger gibt. Und die Christian so sehr mag. Für ihn das wahre St. Pauli. Ein wichtiger Teil Kiez-Geschichte, den es zu bewahren gilt.
Steckbrief Christian Zuckmayer (55)
Spitzname und Bedeutung: Schon seit ich fünf Jahre alt bin, werde ich Zucky genannt.
Beruf/erlernte Berufe: Kameramann/ebenfalls Kameramann
St. Pauli ist für mich … der Mittelpunkt meines Lebens.
Mich nervt es tierisch, wenn … ständig Großveranstaltungen auf dem Kiez stattfinden. Ich bin dann komplett abgeschnitten und komme mit dem Auto oder Motorrad nicht mehr raus aus dem Viertel.
Ich träume davon, … dass es noch mal so etwas wie das „Schlemmereck“ gibt.
Wenn mir einer blöd kommt, … beachte ich ihn nicht. Das hat sich als gut herausgestellt.
Zum Abschalten … gucke ich aus meinem Wohnzimmerfenster auf die Elbe.
Als Kind … war ich auch schon immer ein bunter Vogel.
Meine Eltern … haben alles mitgetragen, bis ich Punk wurde. Das fanden sie nicht so gut.
Vom Typ her bin ich … sehr offen und gehe auf Leute zu.