Dieser Bauarbeiter lässt im Kino Hamburgs Gängeviertel wiederauferstehen
Ein Handwerker, der seine Brötchen auf dem Bau verdient, hat ein sechsstündiges Dokudrama über das Hamburger Gängeviertel geschaffen, das jetzt mit großem Erfolg im Kino läuft. Der Mann ist kein Regisseur, kein Drehbuchautor, er hat keinen Filmverleih und ein Budget schon gar nicht. Wie der 56-jährige Hamburger Andreas Karmers das trotzdem geschafft hat – und wie Sie Filmtickets gewinnen können.
Ein Handwerker, der seine Brötchen auf dem Bau verdient, hat ein sechsstündiges Dokudrama über das Hamburger Gängeviertel geschaffen, das jetzt mit großem Erfolg im Kino läuft. Der Mann ist kein Regisseur, kein Drehbuchautor, er hat keinen Filmverleih und ein Budget schon gar nicht. Wie der 56-jährige Hamburger Andreas Karmers das trotzdem geschafft hat – und wie Sie Kinokarten gewinnen können.
Seit Monaten läuft der dreiteilige Film über Hamburgs Gängeviertel im Zeise-Kino, immer an den Wochenenden. Auch andere Kinos haben jetzt Interesse angemeldet. Die Filmkritiker sind hin und weg: Ein „fulminantes Sechsstunden-Epos“, so das Urteil des Filmmagazins „Splatting Image“. „Wir waren das dunkle Herz der Stadt“ sei alles gleichzeitig: Stadtgeschichte, Familienalbum, Revolutionsdrama und Architekturkritik.

Begeistert sind auch die Zuschauer. Einer schrieb, er möchte sich bedanken: „Für drei Sonntage, an denen ich mich um 11 Uhr in einen dunklen Saal gesetzt habe, in dem mir mehr als nur ein Licht aufging.“ Bedanken auch „für die Ausdauer, diesen tollen Film produziert zu haben. Und für all das, was Worte und Bilder mit mir beim Zuschauen gemacht haben.“
Andreas Karmers – wer ist denn das? Künstlerische Ambitionen hatte dieser Mann immer schon. Er hat Bücher geschrieben, die niemand drucken wollte. Hat Cartoons gezeichnet, die niemand verlegen mochte. Kunstmaler ist er auch noch, aber kein Galerist interessierte sich bisher für ihn. Immerhin ein paar Hörbücher hat er produziert. Allerdings war der Erfolg nicht so groß, dass er davon hätte leben können. Karmers mit süffisantem Unterton: „Auf dem Bau bin ich nicht, weil ich das da so geil finde.“
Er selbst sagt von sich, dass er ein ziemlich unstetes Leben geführt habe. Kein Abi, kein Studium. Dafür Seemann, Türsteher, Maler und Lackierer. Einen „Gelegenheitsarbeiter“ nennt er sich. Eine Zeit lang war er festangestellt. Auch im UKE hat er mal seine Brötchen verdient. Sein Job dort: Wäsche und Patienten befördern.
Zehn Jahre hat Andreas Karmers an dem Film gearbeitet
Und so einer dreht ein Filmepos? Wie kommt das? Und wie hat er das finanziert?

Wir besuchen Andreas Karmers in seiner Wohnung: ein einzelnes kleines Zimmer unterm Dach mit Klo und Kochnische an der Budapester Straße (St. Pauli). Die Wände: voll mit zugestellten Buchregalen. In der Ecke eine alte Couch, die auch als Bett dient. Auf dem Schreibtisch der Computer, an dem er das Drehbuch schrieb.
Wieso die Gängeviertel? Warum dieses Thema? „Weil diese untergegangene Welt mich immer schon fasziniert hat. Als ich dann erfuhr, dass meine Urgroßmutter dort einen Tabakladen betrieben hat und mein Großvater dort geboren wurde, wollte ich diese Welt unbedingt wiederauferstehen lassen.“
Im Film nimmt Karmers Großvater die Zuschauer mit auf eine Zeitreise
Und das ist ihm gelungen. Alte Filmschnipsel, Familienaufnahmen, antiquarische Fotos und Postkarten, Tagebücher, Erinnerungen und aktuelle Filmaufnahmen hat Karmers zu einer spannenden Collage montiert. Als Sprecher fungieren namhafte Schauspieler: etwa Ulrich Tukur. Als Kameramann gewann er unter anderem Bernd Meiners – der auf Teile seines Honorars verzichtete, weil er das Projekt so toll fand. Geschnitten hat alles Filmemacher Janne Jürgensen. „Gefühlt haben wir zwei eine Million Stunden gemeinsam dran gesessen“, sagt Karmers.

Wer dieses Doku-Drama sieht, begibt sich auf Zeitreise, fühlt, riecht, sieht plötzlich diese eng bebauten Viertel vor sich, die über Jahrhunderte Hamburgs Stadtbild prägten. In diesem größten Slum Europas wohnten die Ärmsten der Armen, um die sich die Politiker im Rathaus kein bisschen scherten. Während anderswo in der Stadt das Wasser längst aus der Leitung kam, musste es hier aus den Fleeten geschöpft werden, denselben, in denen Müll und Fäkalien schwammen.
Um 1880 herum begann dann der Abriss, der sich bis in die Nazi-Zeit hinzog. Hamburg wollte die Elendsquartiere verschwinden lassen und stattdessen moderne Kontorhäuser, Speichergebäude und einen Prachtboulevard, die Mönckebergstraße, bauen. Die Bewohner erhielten die Kündigung und mussten sehen, wo sie bleiben, während die Spekulanten den großen Reibach machten.
Karmers hat seinen Film so angelegt, dass sein längst verstorbener Großvater Walter Wedstedt („Ich habe ihn nie kennengelernt“) die Zuschauer an die Hand nimmt und durch die verschwundene Welt von gestern führt. Der Film erzählt vom Untergang der Gängeviertel einerseits, andererseits von drei Generationen einer Familie, die dort verwurzelt war, bis sie mit Gewalt entwurzelt wurde: gemeint sind Karmers Vorfahren.
Keine Filmförderung, kein Filmverleih, kein Budget – und trotzdem erfolgreich
Zehn Jahre hat Karmers an seinem Film gearbeitet. 2015 unternahm er den Versuch, über die Crowd-Funding-Plattform Startnext an Geld zu kommen. Innerhalb von einem Vierteljahr fanden sich mehr als 100 Unterstützer, die ihm fast 26.000 Euro zur Verfügung stellten. Damals ging Karmers noch von Kosten in Höhe von 50.000 Euro aus.
- Staatsarchiv Hamburg Einfach alles plattgemacht: Hamburgs Stadtväter haben die Gängeviertel zwischen 1880 und 1936 restlos niederreißen lassen, um dort moderne Kontorhäuser zu bauen.
Einfach alles plattgemacht: Hamburgs Stadtväter haben die Gängeviertel zwischen 1880 und 1936 restlos niederreißen lassen, um dort moderne Kontorhäuser zu bauen. - Hamann/Staatsarchiv Hamburg Hamburgs Gängeviertel. Hier der Wohnhof „Blauer Lappen“ am Eichholz mit zahlreichen Bewohnern.
Hamburgs Gängeviertel. Hier der Wohnhof „Blauer Lappen“ am Eichholz mit zahlreichen Bewohnern. - Karmers Hamburgs Gängeviertel: Hier die Neustädter Straße.
Hamburgs Gängeviertel: Hier die Neustädter Straße. - Karmers Hamburgs Gängeviertel. Hier die Neustädterstraße, wo Andreas Karmers Vorfahren wohnten.
Hamburgs Gängeviertel. Hier die Neustädterstraße, wo Andreas Karmers Vorfahren wohnten. - Staatsarchiv Hamburg Hamburgs Gängeviertel. Hier der Große Bäckergang.
Hamburgs Gängeviertel. Hier der Große Bäckergang. - Staatsarchiv Hamburg Hamburgs Gängeviertel. Hier Schaarmarkt und Bleichergang.
Hamburgs Gängeviertel. Hier Schaarmarkt und Bleichergang.
Doch dann kam alles anders. Erst 2022 wurde der Film fertig, sechs Jahre später als geplant. Mit 300 Minuten ist er dreimal so lang wie ursprünglich angedacht. Und auch die Kosten sind explodiert: auf 130.000 Euro. Weil ihn die Filmförderung nicht unterstützte, hat er das fehlende Geld mit seiner Hände Arbeit auf dem Bau verdient. Ein wenig finanzielle Unterstützung bekam er noch von der Stiftung Schleswig-Holstein Musik Festival. „Sonst wäre der Film wohl immer noch nicht fertig“, sagt Karmers.
Schulden von rund 30.000 Euro hat Karmers noch auf der Uhr. Aber er ist zuversichtlich, wenigstens einen Teil der Summe über die Kinokasse wieder reinzuholen. Im Metropolis und im Magazin lief er mit Erfolg, im Ottenser Zeise-Kino ist er noch bis mindestens April eingeplant. Die Leute spüren, wieviel Herzblut der Regisseur in seinen Film gesteckt hat – so erklärt sich Zeise-Chef Matthias Ellwardt den Erfolg des Films.

Lust auf sechs Stunden Gängeviertel? MOPO verlost Kinokarten
Am 19. März wird im Zeise eine Art Jubiläum gefeiert: Weil der Film dann schon ein halbes Jahr durchgehend dort läuft, gibt es für Hartgesottene alle drei Teile hintereinander: um 11 Uhr, um 13.15 Uhr und um 16.15 Uhr. Andreas Karmers wird persönlich vor Ort sein. Und damit niemand Hunger leidet, werden die Kinogänger in den Pausen mit Frikadellen und Brezeln versorgt.
Lust auf sechs Stunden Gängeviertel am Stück? Die MOPO verlost 10 mal 3 Karten. Zehn Leser können sich also alle drei Teile „für lau“ angucken. Was Sie tun müssen: eine Mail schreiben an olaf.wunder@mopo.de mit Name, Anschift und Telefonnummer. Einsendeschluss: 16.3.2023, 12 Uhr.