Tödliche Abbiege-Falle: Die Angst der Hamburger Radfahrer vor den Lkw
Es ist die wohl größte Angst der Radfahrer in der Stadt: Von Lastwagenfahrern übersehen – und überfahren zu werden. Erst Anfang Juni starb ein 62-jähriger Radfahrer in Wilhelmsburg, der von einem Lkw beim Abbiegen überrollt wurde. Wenige Monate zuvor überfuhr ein abbiegender Laster eine 34-jährige Radfahrerin in der HafenCity. Um solche Unfälle zu verhindern, gilt seit 2020 die Pflicht für Lkw-Fahrer, nur noch im Schritttempo abzubiegen. Doch hält sich da überhaupt jemand dran? Die MOPO machte den Test an einer der tödlichen Kreuzungen Hamburgs, analysierte Bußgeldverfahren und Polizeikontrollen, sprach mit Fahrlehrern und Radaktivisten – und erklärt, wie sich die tödlichen Unfälle verhindern ließen.
Es ist die wohl größte Angst der Radfahrer in der Stadt: Von Lastwagenfahrern übersehen – und überfahren zu werden. Erst Anfang Juni starb ein 62-jähriger Radfahrer in Wilhelmsburg, der von einem Lkw beim Abbiegen überrollt wurde. Wenige Monate zuvor überfuhr ein abbiegender Laster eine 34-jährige Radfahrerin in der HafenCity. Um solche Unfälle zu verhindern, gilt seit 2020 die Pflicht für Lkw-Fahrer, nur noch im Schritttempo abzubiegen. Doch hält sich da überhaupt jemand dran? Die MOPO machte den Test an einer der tödlichen Kreuzungen Hamburgs, analysierte Bußgeldverfahren und Polizeikontrollen, sprach mit Fahrlehrern und Radaktivisten – und erklärt, wie sich die tödlichen Unfälle verhindern ließen.
Montag, kurz vor 8 Uhr: An der Kreuzung Am Sandtorkai/Osakaallee in der HafenCity ist der morgendliche Berufsverkehr in vollem Gange. Radfahrer warten in Kolonnen an der roten Ampel, Autos rauschen in Richtung Altstadt oder St. Georg, genauso wie etliche Lkw. Ab und zu biegt einer von ihnen rechts ab, 29 zähle ich innerhalb von anderthalb Stunden. Nur wenige Meter entfernt starb am 30. Januar eine junge Mutter unter einem Lastwagen.
HafenCity: Wie viele Lkw halten sich an das Schritttempo?
Seit April 2020 gilt – genauso wie für alle anderen Fahrzeuge über 3,5 Tonnen –, dass sie innerorts nur noch in Schrittgeschwindigkeit rechts abbiegen dürfen. Das entspricht sieben bis elf Kilometer pro Stunde und soll schwere Unfälle mit Radfahrern oder Fußgängern verhindern. Genau nachmessen kann ich es nicht, in meiner Wahrnehmung überschreiten aber 19 der insgesamt 29 gezählten Lkw an diesem Montagmorgen diese Vorgabe deutlich. Unter den zehn, die langsam und mit Bedacht um die Kurve fahren, sind zwei Fahrschul-Lkw.
Ein ähnliches Bild ergibt sich gegen 9.30 Uhr an der Kreuzung Rödingsmarkt/Willy-Brandt-Straße in der Hamburger Altstadt. An dieser Stelle biegen deutlich weniger Laster rechts ab, die meisten folgen der Willy-Brandt-Straße. Ein paar gibt es aber doch: 15 zähle ich diesmal innerhalb einer Stunde – auch hier fährt der überwiegende Teil viel zu schnell um die Kurve.
Lkw beim Abbiegen: So schnell kann es gefährlich werden
Und das kann sehr schnell gefährlich werden: Der Hamburger Twitter-Account „Radweg Hindernis(se)“, der sich dem Radfahren in der Stadt widmet, dokumentierte Anfang der Woche eine solche Situation im Bereich der Wandsbeker Chaussee. In dem Video ist zu sehen, wie ein Radfahrer an einer Kreuzung auf einem rot markierten Weg geradeaus weiterfahren will – bis er dabei fast von einem rechts abbiegenden Lkw-Fahrer umgefahren wird. „Da rutscht einem das Herz in die Hose“, schreibt der Twitter-Nutzer.
Erst kürzlich wurden die Radwegefurten im Bereich d. Wandsbeker Marktstr. / Wandsbeker Allee -ROT- markiert, Sicherheit bringt das aber trotzdem nicht.
— Radweg Hindernis(se) (@RadwegH) June 12, 2023
Hier kommt ein Radfahrer fast unter d. Räder eines rechts abbiegenden LKW-Fahrers.
Da rutscht einem das Herz in die Hose pic.twitter.com/UDNu6ccKe1
Jeder Radfahrer in Hamburg dürfte solche Situationen schon erlebt haben. Auch Elisa Surej, die an der Beruflichen Schule für Fahrzeugtechnik in Hamburg künftige Berufskraftfahrer ausbildet, ist sich der Problematik bewusst. „Das Wichtigste ist, dass die Fahrer ihre Spiegel richtig einstellen. So kann der tote Winkel so gut wie ausgeschlossen werden“, sagt sie an einem Aktionstag, an dem die Azubis gemeinsam mit Viertklässlern einen Parcours absolvierten.
An den Stationen lernen beide Seiten, aufeinander acht zu geben. „Blickkontakt suchen und winken hilft da sehr“, sagt die 38-Jährige. Für die Lkw-Fahrer gelte natürlich allem voran das Schrittempo beim Abbiegen. „Leider machen das viele nicht“, sagt Surej und schüttelt dabei den Kopf. Sie hofft, dass mit solchen Trainings künftige Unfälle verhindert werden können.
So viele tausend Trucks sind in Hamburg zugelassen
Allein in Hamburg sind fast 4000 Lkw über 7,5 Tonnen zugelassen, dazu kommen etliche Fahrzeuge von außerhalb. Wenn sie gegen das Schritttempo verstoßen, drohen bis zu 70 Euro Bußgeld und ein Punkt in Flensburg. Aber – wie viele dieser Verstöße werden überhaupt registriert? Die Fahrradkontrollgruppe sowie die Dienstgruppe Schwerlast der Hamburger Polizei kontrollierten seit Anfang 2022 insgesamt elfmal dazu.
Laut Bußgeldstelle wurden im Jahr 2022 insgesamt 40 Verfahren eingeleitet, weil die Betroffenen in einem Fahrzeug über 3,5 Tonnen nicht im Schritttempo rechts abbogen, „obwohl mit Rad- oder Fußgängerverkehr zu rechnen war“. 2991,50 Euro Bußgelder wurden verhängt. Die Zahl steigt: Bisher wurden 2023 bereits 43 solcher Verstöße registriert und 2758 Euro fällig.
Ab wann wird ein Verstoß gegen das Schrittempo geahndet?
Trotzdem erscheint das recht wenig. Im „Tagesspiegel“ berichtete die Berliner Polizei, dass es „weder verbindliche Regelungen zur Höhe der Schrittgeschwindigkeit gebe, noch dazu, ab wann ein Abbiegevorgang beginnt“. Außerdem müssten zu „einer Schrittgeschwindigkeit von 10 km/h die Feherltoleranz des Fahrtenschreibers (6 km/h) sowie die Messtoleranz (3 km/h)“ als zulässiges Maximum hinzu addiert werden.
Im Fall des Müllwagenfahrers, der im Jahr 2021 einen 76-jährigen Radfahrer in der Wendemuthstraße in Wandsbek beim Rechtsabbiegen übersehen und überfahren hatte, spielte die Schrittgeschwindigkeit beim Prozess zwei Jahre später jedenfalls die entscheidende Rolle. Das Gericht veruteilte ihn wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe von 5400 Euro.
„Es ist für das Gericht nicht entscheidend, ob und wann der Geschädigte für den Angeklagten sichtbar war“, sagte die Richterin damals. Entscheidend war, dass der Angeklagte mit rund 15 Stundenkilometern in die Kreuzung eingebogen sei. Wäre er mit der vorgeschriebenen Schrittgeschwindigkeit gefahren, hätte er noch bremsen können. Zuvor hatte der 24-jährige Fahrer beim Prozess beteuert, er habe den Radfahrer überhaupt nicht gesehen.
Gericht in Hamburg verurteilte Lkw-Fahrer zu Geldstrafe
„Wer achtsam und rücksichtsvoll fährt, kann andere Verkehrsteilnehmer gar nicht übersehen“, stellt Dirk Lau, Sprecher des Hamburger Fahrradclubs ADFC klar. „Bei richtig eingestellten Spiegeln und angepasster Geschwindigkeit gibt es auch keinen toten Winkel. Wer sich nicht sicher ist, ob der Abbiegebereich frei ist, muss aussteigen und nachschauen.“
Lau bringt zudem einen möglichen Beifahrer für die Lkw in der Stadt ins Spiel, „der beim Abbiegen immer den Kopf aus dem Fenster steckt, um dem Fahrer zusätzlich zu den Spiegeln und Assistenzsystemen zu signalisieren, ob frei ist.“ Generell müsse der Zeitdruck bei den Berufskraftfahrern vermindert werden. „Menschen, die im Stress sind, machen erfahrungsgemäß mehr Fehler. Solche Fehler können im Straßenverkehr aber für andere Menschen tödlich sein.“