Hamburger lebte „15 Jahre versteckt im Wald“ – jetzt hat er wieder eine Wohnung
Alles beginnt mit einer kleinen Notiz bei Facebook. Die „Bergedorfer Engel“, eine sehr aktive Obdachlosenhilfs-Organisation aus dem Osten der Stadt, teilt da ihren Followern mit, es gäbe „good News“. „Unser Freund Teddy hat seit dem 1.7. eine Wohnung“, heißt es da. Und dann dieser Satz, der uns verblüfft und elektrisiert zugleich: „Er hat 15 Jahre versteckt im Wald gelebt.“
Wie bitte? 15 Jahre im Wald? Wie ist das möglich? 24 Stunden später treffe ich Teddy. Direkt vor der Kirche St. Petri und Paul in Bergedorf sind wir verabredet. Freundliche Augen schauen mich an. Ein 60-jähriger hagerer Mann mit eingefallenen Wangen, gegerbter Haut und einem grauen Rauschebart. Der letzte Friseurbesuch hat vermutlich stattgefunden, als Helmut Kohl noch Bundeskanzler war. „Bist du Herr Wunder“, fragt er. Bin ich.
- Deutsch (Deutschland)
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Alles beginnt mit einer kleinen Notiz bei Facebook. Die „Bergedorfer Engel“, eine sehr aktive Obdachlosenhilfs-Organisation aus dem Osten der Stadt, teilt da ihren Followern mit, es gäbe „good News“. „Unser Freund Teddy hat seit dem 1.7. eine Wohnung“, heißt es da. Und dann dieser Satz, der uns verblüfft und elektrisiert zugleich: „Er hat 15 Jahre versteckt im Wald gelebt.“
Wie bitte? 15 Jahre im Wald? Wie ist das möglich? 24 Stunden später treffe ich Teddy. Direkt vor der Kirche St. Petri und Paul in Bergedorf sind wir verabredet. Freundliche Augen schauen mich an. Ein 60-jähriger hagerer Mann mit eingefallenen Wangen, gegerbter Haut und einem grauen Rauschebart. Der letzte Friseurbesuch hat vermutlich stattgefunden, als Helmut Kohl noch Bundeskanzler war. „Bist du Herr Wunder“, fragt er. Bin ich.
Ich habe schon mit Obdachlosen zu tun gehabt. Vor ein paar Jahren habe ich auf der Mö gebettelt, Flaschen gesammelt, bei der Alimaus zu Mittag gegessen, unter der Kennedy-Brücke und im Pik As gepennt – alles für eine Reportage. Ich konnte kurz darauf zurückkehren in mein bequemes Leben – deshalb hat das wenig zu tun mit dem, was Obdachlose erdulden müssen. Aber immerhin weiß ich seither, dass es sich bei diesen Menschen um eine besonders scheue Spezies handelt. In die Zeitung möchten sie meist nicht – Verwandte könnten sie erkennen und erfahren, wie tief unten sie gelandet sind.
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Sein Versteck im Wald – lange hat Teddy den Ort streng geheim gehalten
Bei Teddy ist das anders. Ich darf über ihn schreiben, darf ihn fotografieren, alles. Ich darf sogar seinen vollen Namen nennen – worauf ich allerdings zu seinem Schutz verzichte. Warum bloß ist er mit allem einverstanden, frage ich mich – und ihn. Seine Antwort: „Ich habe Dich gegoogelt“, sagt der 60-Jährige, „und da habe ich gesehen, Du bist in Ordnung!“
Sein Platz im Wald war jahrelang Teddys größtes Geheimnis. „Uns hat er nie gesagt, wo genau er lebt“, erzählt Susanne Diem, 2. Vorsitzende der „Bergedorfer Engeln“. Als ich Teddy frage, ob er mich hinführt, ist er sofort dazu bereit. Dabei spielt sicherlich eine Rolle, dass er jetzt nichts mehr zu verlieren hat – er wohnt ja nicht mehr da.
Von Bergedorfs Zentrum fahren Teddy und ich keine drei Minuten mit dem Auto Richtung Wentorf, dann geht es zu Fuß weiter: links einen Weg hinein in den Wald. „Da rauf“, sagt er. Wir steigen über Wurzeln, zwängen uns durch Büsche, und finden uns plötzlich auf einer Anhöhe wieder. Ein richtig schöner Ort. Teddys alter Schlafsack ist noch da – inzwischen befindet er allerdings in einem sehr bedenklichen Zustand. Teddy berührt ihn freundschaftlich, fast wie einen alten Kumpel.
„Hier habe ich gepennt“, sagt Teddy. „Das ist der perfekte Ort für Obdachlose“, findet er, „weil man die ganze Umgebung im Blick hat wie in einem Adlerhorst. Da konnte keiner kommen, ohne dass ich ihn sah. Und hier kann man wunderbar sitzen und in die Welt gucken.“
Teddy behauptet, es handele sich um einen magischen Ort. Als Beweis für diese Theorie führt er an, dass er mal auf eine Stelle gestoßen sei, wo Vogel- und Katzen-Totenköpfe gelegen hätten, von Menschenhand im Kreis angeordnet. Für ihn steht fest: das Werk eines Schamanen. Ich runzele die Stirn.
Bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt im Wald überleben – wie geht das?
Für Teddy ist dieser Hügel immer noch so was wie ein Zuhause. „Komm, machen wir eine Begehung“, fordert er mich auf, als gelte es, ein ganzes Schloss zu besichtigen. „Hier war tagsüber, wenn ich unterwegs war, mein Schlafsack versteckt. Siehste“, sagt er und zeigt auf eine Art Höhle unter Wurzel- und Astwerk, „da konnte ihn niemand sehen.“
Dann will er mir das „Badezimmer“ zeigen: „Da links geht’s runter zur Bille. Da habe ich morgens meine Unterhose ausgewaschen“, sagt er. Manchmal sei er von Passanten überrascht worden. „Das sah natürlich blöd aus, so ein nackter Mann am Fluss.“
Wie kann hier ein Mensch einen Winter bei Minusgraden überstehen? „Ach“, sagt er, „das geht.“ Und er beginnt sofort damit, mir eine Schnell-Einführung in Überlebenstraining zu geben. „Natürlich brauchst du einen Schlafsack. Dann hatte ich noch einen Biwaksack von der Bundeswehr, so eine Art wasserdichten Schlafsack-Überzug. Und im Winter habe ich noch eine Rheumadecke reingepackt“, sagt er. „So eine Rheumadecke ist Gold wert. Da frierst du nicht. Nicht mal bei minus 25 Grad.“ Schon bei dem Gedanken fröstelt es mich.
„Das Wichtigste ist“, sagt Teddy, „niemals mit Klamotten in den Schlafsack zu gehen, auch wenn es noch so kalt ist. Das machst du zwei Nächte, dann stinkst du. Und wenn du stinkst, dann kriegst du so kleine Risse an den Füßen, und die infizieren sich. Am Ende wird dir das Bein abgenommen. Also niemals angezogen in den Schlafsack, hörst du?!“ sagt er ermahnend. Ich verspreche es ihm.
„Was bist du eigentlich von Beruf?“ frage ich. „Im- und Export-Kaufmann“, sagt er. Früher habe mit Trockenfrüchten und Teppichen gehandelt. In den 80er Jahren habe er dann eine eigene Kung-Fu-Schule betrieben.
Von Beruf ist Teddy Im- und Export-Kaufmann, er besaß mal eine Kung-Fu-Schule
Überhaupt scheint er auf alles Fernöstliche abzufahren. Nicht nur auf Kampfsport. Auch auf chinesische Philosophie und Meditation. Plötzlich kramt er aus der Tasche seiner Trainingsjacke ein Heftchen hervor. „Fibel“ nennt er das. Das Ding ist randvoll mit chinesischen Schriftzeichen – zumindest sieht es so aus, als handele es sich um chinesische Schriftzeichen. Er sagt, das habe alles er geschrieben. Er beginnt sogar daraus vorzulesen: Lauter seltsame Weisheiten. Er ist gar nicht mehr zu bremsen.
Um das Thema zu wechseln, lasse ich mir schnell eine Frage einfallen: Und wie wurde aus dem Kung-Fu-Lehrer ein Obdachloser? Was ist passiert?
Er grübelt lange. Dann schaut er zu Boden: „Weiß nicht mehr. Nennt man traumatisiert. Es ist nichts Schlimmes passiert, aber es war ganz schön schlimm. Ein großes Ende und so.“ Es ist nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass ich aus dem, was er sagt, nicht schlau werde.
„Und Du hast 15 Jahre in diesem Wald gewohnt?“, frage ich. „Nein, hier nur die letzten fünf Jahre. Davor zehn Jahre im Wohlers Park. „Im Wohlers Park?“, wiederhole ich überrascht. „Ja, in einem Rhododendronbusch. Da drin war eine richtige Höhle, genau so groß, dass ich mich darin ausstrecken konnte. War überhaupt nicht einsehbar von außen.“
Teddy ist einer, der seine Ruhe will. Und andere Obdachlose meidet
Warum er da weg ist? „Weil da irgendwelche anderen Obdachlosen Flaschen zerbrochen haben. Alles voller Scherben und so.“ Und Leute mit Hunden hätten ihn gejagt.
Teddy ist einer, der seine Ruhe will. „Sind da andere Obdachlose, dann bringt irgendeiner Lebensmittel mit zum Schlafplatz und lässt die liegen“, sagt er mit angewidertem Gesichtsausdruck. „Dann kommen Ratten, Mäuse, Hunde. Nee. Ich will meine Ruhe. Ich wollte immer allein sein.“
Deshalb fühlte er sich im Wald wohl. Bis ihm eines Tages Kumpel von früher über den Weg gelaufen sind. „Die haben mir gesagt, ich soll das nicht mehr: im Freien leben, weil ich ja auch älter werde und so. Und die haben mir dann rausgeholfen.“
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Susanne Diem von den „Bergedorfer Engeln“ bestätigt das: „Freunde von ihm haben uns kontaktiert. Anfangs ging es nur um einen neuen Schlafsack. Und dann kam bald die Frage auf, ob wir nicht eine Wohnung für ihn haben. Darum haben wir uns dann gemeinsam mit der Sozialen Beratungsstelle Bergedorf/Billstedt gekümmert.“
Ein Zimmer, Küche, Klo und eine spartanische Einrichtung – das ist sein neues Reich
Das hat sich dann ganz schön lange. hingezogen. „Er hatte nämlich keine Papiere. Aus Wuppertal, wo er geboren ist, musste eine Abschrift der Geburtsurkunde bestellt werden“, sagt Susanne Diem, „das allein hat sechs Monate gedauert.“
Als nächstes war der Beweis zu erbringen, dass Teddy überhaupt Deutscher und damit anspruchsberechtigt ist. Es stellte sich nämlich heraus, dass seine Eltern – sie leben heute in Kärnten – die österreichische Staatsbürgerschaft haben. Jede Menge Papierkram also.
Teddy war davon ziemlich genervt, überfordert, hätte das alleine nie geschafft „Das mit den Ämtern war wirklich eine Tortur“, sagt er. „Gott sei Dank, gibt es die Soziale Beratungsstelle. Wenn irgendwas war, wenn wieder die Welt zusammenkrachte wegen irgendeines Behördenbriefs, dann bin ich da hin und die haben immer gesagt: ,Das machst du jetzt so und so.‘“
Gut ein Jahr hat es gedauert, bis Teddy endlich sein neues Zuhause beziehen konnte: und zwar in der Bergedorfer Stiftung Jochimsthal, deren Zweck es ist, bedürftigen alten Menschen Wohnraum zu geben. Teddy passt genau ins Profil. Und glücklicherweise war auch gerade was frei.
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Ein Zimmer, Küche, Bad. Vielleicht 30 Quadratmeter. Das ist jetzt Teddys Reich. Auf dem Boden liegt ein Futon, in der Ecke steht ein Rattan-Regal. In der Küche gibt es eine Spüle, aber keinen Kühlschrank. Das ist die komplette Einrichtung. Teddy nennt diesen Stil japanisch. Man könnte auch „spartanisch“ sagen.
10 oder 20 Euro – so viel verdient Teddy täglich beim Betteln
„Wir sind ganz froh, dass er die Wohnung angenommen hat“, sagt Susanne Diem. Das sei bei Menschen, die so lange im Freien gelebt haben, gar nicht selbstverständlich. „Die fühlen sich schnell eingesperrt. Aber bei Teddy ist der Vorteil, dass er keine Suchtproblematik hat. Das macht Vieles leichter.“
Ja, die Wohnung gefällt Teddy richtig gut. Vor allem, weil das Haus von einem Park umgeben ist – es ist also fast wie in seinem Wald. „Nach einem Tag schon habe ich mich dran gewöhnt, in einem Haus zu leben, habe gleich wieder ein normales Leben angefangen. Bisschen putzen, bisschen kochen, bisschen machen und tun und so.“
Ich will mich verabschieden. Da fragt Teddy, ob ich ihn mitnehme. Bis nach Bergedorf rein. Dahin, wo wir uns getroffen haben am Morgen. Mach ich. Dort angekommen, bezieht er seinen Stammplatz an einer Brücke. Im Schneidersitz nimmt er auf den Gehwegplatten Platz, macht eine etwas seltsame fernöstliche Gebetsgeste – und beginnt mit der Arbeit. Betteln. „Mal 10, mal 20 Euro kommen so zusammen. Manchmal auch gar nichts“, sagt er.
Den Mann mit dem Rauschebart kennt in Bergedorf jeder. Das heißt: Jeder hat Teddy schon mal da sitzen sehen. Wie sein Name lautet, weiß kaum einer. Auch nicht, dass er im Wald gelebt hat. Eigentlich wissen sie gar nichts über ihn. Manche werfen ihm 50 Cent hin oder einen Euro. Andere machen einen großen Bogen, wenn sie ihn sehen.