Sturmflut vor 60 Jahren: Die Nacht, in der das Wasser kam
Die Schwarz-Weiß-Bilder von damals sind längst vergilbt. Die Erinnerung aber in den Köpfen jener, die dabei waren, sind grell und furchtbar lebendig. Zeitzeugen erinnern sich noch genau an das Wasser, das immer höher stieg, spüren noch die Todesangst, hören ihre eigenen gellenden Hilferufe, trauern immer noch ein bisschen um die Nachbarn, die Freunde, die es nicht geschafft haben.
Die Schwarz-Weiß-Bilder von damals sind längst vergilbt. Die Erinnerung aber in den Köpfen jener, die dabei waren, sind grell und furchtbar lebendig. Zeitzeugen erinnern sich noch genau an das Wasser, das immer höher stieg, spüren noch die Todesangst, hören ihre eigenen gellenden Hilferufe, trauern immer noch ein bisschen um die Nachbarn, die Freunde, die es nicht geschafft haben.
Vor genau 60 Jahren – in der Nacht von Freitag, 16., auf Samstag, 17. Februar 1962 – kam das Unheil über Hamburg. Eine Flutkatastrophe unbekannten Ausmaßes ließ die Deiche bersten wie von Kinderhand gebaute Strandburgen. Als Zeit zum Zählen und Trauern war, stand fest: 315 Hamburger hatten ihr Leben verloren, 20.000 kein Dach mehr über dem Kopf.

Die Behörden hatten die an Sturm gewöhnten Hamburger an diesem furchtbaren Freitag ahnungslos zu Bett gehen lassen. Ernsthafte Sturmflutwarnungen im Vorgeld gab es nicht. Zwar unterbrachen abends Radio und Fernsehen ihr Programm zweimal für eine Unwetterwarnung – dabei hieß es, das Wasser werde auf 3,50 Meter über Normalnull steigen. Aber weil darin nur von der deutschen Nordseeküste die Rede war, nicht explizit von Hamburg, nahm das bei Weitem nicht jeder ernst.
Sturmflut? Viele Bewohner zeigten den Polizisten den Vogel
Als den Behörden klar wurde, dass eine Katastrophe bevorstand, war es zu spät. Gegen 22 Uhr wurden Böllerschüsse aus Sturmkanonen abgegeben – aber sie gingen im Lärm des Sturms unter. In Teilen Wilhelmsburgs und Finkenwerders versuchten kurz vor Mitternacht Polizeibeamte die Bevölkerung zu warnen, indem sie von Haus zu Haus gingen, gegen Türen und Fenster klopften, manchmal sogar verzweifelt Schüsse in die Luft abgaben. Doch viele Bewohner zeigten den Beamten einen Vogel, manchmal wurden die Polizisten sogar beschimpft.
Wieso die Leute das Unwetter auf die leichte Schulter nahmen? Weil die letzte große Sturmflut, die Hamburg heimsuchte, schon fast 140 Jahre zurücklag. Nach 1825 waren die Deiche auf 5,70 Meter über Normalnull erhöht worden, und das, so schien es, reichte. So erklärt es sich, dass im Bewusstsein der Bürger die Gefahren, die von Nordsee und Elbe ausgehen konnten, nicht mehr sehr tief verankert waren. Ein großer, ein tödlicher Fehler.

Heftige Stürme hatte es bereits in den Tagen zuvor gegeben. Das Wasser war dabei in der Elbe gestaut worden und konnte nicht richtig abfließen. Umso verheerender die Wirkung des Orkans „Vincinette“. Gnadenlos entwurzelte er Bäume, zerstörte Dächer. Vor allem aber: Er drängte noch mehr Nordseewasser in die Deutsche Bucht und weiter in die Elbe. Eine gigantische Flutwelle machte sich auf den Weg in Richtung Hansestadt.
Das Hochwasser ließ an 60 Stellen die Deiche brechen
Das Wasser stieg weit höher als befürchtet: Am Pegel St. Pauli auf 5,70 Meter, bei Neuenfelde, wo um 0.11 Uhr der erste Deich brach, auf 5,98 Meter über Normalnull (NN). Nicht weniger gefährlich als die Wasserhöhe waren der Wasserdruck und dessen Dauer. Weitere 60 Deichabschnitte gaben in den folgenden Stunden nach.
Riesige dicht besiedelte Gebiete südlich der Elbe verwandelten sich innerhalb kürzester Zeit in eine Seenlandschaft. Überall trieben tote Tiere, versuchten sich Menschen watend oder schwimmend in Sicherheit zu bringen. Tausende kauerten auf Dächern, ohne Nahrung, ohne Wasser. Oder kamen bei Nachbarn in höheren Stockwerken unter.
Über 100.000 Menschen gerieten im Überschwemmungsgebiet in Not, vor allem in Wilhelmsburg, Moorburg, Finkenwerder, Altenwerder, Georgswerder, Cranz und Francop. Zwei Tage nach den Deichbrüchen waren noch über 10.000 Menschen von Wassermassen eingeschlossen.

Es folgte die größte Rettungsaktion in der Geschichte der Stadt: Polizei und Feuerwehr wurden von 6000 Soldaten der Bundeswehr unterstützt, von Bundesgrenzschutzeinheiten und von Helfern weiterer Organisationen: Technisches Hilfswerk, Bundesluftschutzverband, Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft, Deutsches Rotes Kreuz, Johanniter, Malteser, Arbeiter-Samariter-Bund. Fast stündlich trafen weitere Helfer ein. Bis zu 25.000 Rettungskräfte waren im Einsatz, darunter Soldaten aus Belgien, Großbritannien, aus den USA, den Niederlanden und aus Dänemark.
Sturmflut 1962: Der größte Hilfseinsatz in Hamburgs Geschichte
Die Katastrophe löste eine überwältigende Welle an Hilfsbereitschaft aus: Arbeitgeber stellten ihre Auszubildenden für Rettungs- und Aufräumarbeiten frei. Krankenschwestern fuhren per Boot zu den Eingeschlossenen, um sie wegen der drohenden Seuchengefahr gegen Typhus zu impfen. Viele Hamburger spendeten Kleidung und Geld, nahmen Obdachlose bei sich auf oder halfen mit, die Deiche notdürftig wiederherzustellen.
Besonders bemerkenswert ist das, was die Besatzungen der Rettungshubschrauber leisteten – die „rettenden Engel“, wie sie genannt wurden. Am Tag nach der Flutkatastrophe holten sie 400 Hilfesuchende von Hausdächern oder von Bäumen, in die sie sich klammerten. Dabei riskierten die Crews ihr eigenes Leben, denn die Piloten wagten sich häufig sehr nah ran an Hochspannungsleitungen und Hauswände. Jede Windböe hätte die Helikopter gegen ein Hindernis drücken können.

Im Jenischpark war ein provisorischer Landeplatz eingerichtet. Allein von dort aus brachten Hubschrauberstaffeln mehr als 20.000 Liter Trinkwasser, 5000 Brote und 80 Zentner Kartoffeln ins Überflutungsgebiet, außerdem Gaskocher, Kleidung und Säuglingsnahrung.
Während die einen um ihr Überleben kämpften, gab es andere, die im Überschwemmungsgebiet plünderten. Zeitzeuge Ronald Holst (81) aus Blankenese, damals als DLRG-Helfer mit dabei, erzählt, dass in der Wilhelmsburger Filiale seines Lehrbetriebs trotz bauchhohen Wassers eingebrochen und die Betriebskasse aus dem Schreibtisch des Chefs geklaut wurde. „Einige meiner DLRG-Kameraden waren im Alten Land eingesetzt und wurden von der Polizei aufgefordert, in Neuenfelde Plünderer dingfest zu machen. Dafür wollte man sie im Umgang mit Karabinern unterweisen. Das lehnten die Jungs aber ab.“
Schlagzeile zur Sturmflut: „Auf Plünderer wird geschossen!“
Wie verbreitet das Plündern war, zeigt sich auch daran, dass eine Hamburger Tageszeitung groß folgende Schlagzeile auf die Titelseite setzte: „Auf Plünderer wird geschossen!“ Angeblich ein Befehl von Polizeisenator Helmut Schmidt (SPD), was der allerdings später bestritt.

Schmidt war es auch, der am Montag, 19. Februar, Entwarnung gab: Er eröffnete die Lagebesprechung des Katastrophenstabes mit den Worten: „Der Feind hat sich zurückgezogen. Die Lebensgefahr für unsere Mitbürger ist behoben!“ Sollte heißen: „Vincinette“ habe an Kraft verloren. Die Katastrophe sei überwunden.
Die Sturmflut hinterließ gigantische Schäden und hat viele Opfer gefordert. Bei der Trauerfeier für die Toten, an der auch Bundespräsident Heinrich Lübke teilnahm, versammelten sich am 26. Februar 1962 rund 150.000 Menschen auf dem Rathausmarkt. Alle Kirchenglocken in der Stadt läuteten.

„Nur in den Bombennächten des Jahres 1943 und in der Feuersnot des Jahres 1842 wurde unsere Stadt von Heimsuchungen getroffen“, so Bürgermeister Paul Nevermann (SPD) in seiner Ansprache, „die so schwer waren wie dieser letzte Schlag.“