Stolperstein-Klau: Der Nazi-Massenmörder und die Villa am Leinpfad
Der Diebstahl eines Stolpersteins in Winterhude hat für große Empörung gesorgt. Bürger und sämtliche Parteien verurteilen die Tat scharf. Sollte es die Absicht des Täters gewesen sein, die dunkle NS-Vergangenheit einer Villa am Leinpfad zu vertuschen, dann ist das Ziel eindeutig verfehlt worden. Denn nun kommt alles ans Licht. Jedes furchtbare Detail.
Die Geschichte von vorn: Am 16. Oktober wurde vor der Villa am Leinpfad 20 ein Stolperstein verlegt, der an eine Jüdin namens Paula Jacobson erinnert, die dort wohnte und sich – verzweifelt über Demütigungen und Entrechtung durch die Nazis – am 19. September 1934 das Leben nahm. Da war sie gerade 35 Jahre alt.
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Der Diebstahl eines Stolpersteins in Winterhude hat für große Empörung gesorgt. Bürger und sämtliche Parteien verurteilen die Tat scharf. Sollte es die Absicht des Täters gewesen sein, die dunkle NS-Vergangenheit einer Villa am Leinpfad zu vertuschen, dann ist das Ziel eindeutig verfehlt worden. Denn nun kommt alles ans Licht. Jedes furchtbare Detail.
Die Geschichte von vorn: Am 16. Oktober wurde vor der Villa am Leinpfad 20 ein Stolperstein verlegt, der an eine Jüdin namens Paula Jacobson erinnert, die dort wohnte und sich – verzweifelt über Demütigungen und Entrechtung durch die Nazis – am 19. September 1934 das Leben nahm. Da war sie gerade 35 Jahre alt.
Der Stolperstein war kaum verlegt, da war er auch schon wieder verschwunden. Entfernt worden ist er auf sehr professionelle Weise: Er wurde mitsamt umliegender Pflastersteine ausgegraben und durch eine reguläre Gehwegplatte ersetzt, so dass das Fehlen des Stolpersteins nicht auf den ersten Blick auffallen musste.
Donnerstag um 16 Uhr wird es eine Protestveranstaltung vor dem Haus geben
Nachdem die MOPO über diesen Skandal berichtete hatte, haben am Dienstagabend die Vorsitzenden der Fraktionen in der Bezirksversammlung Nord eine gemeinsame Erklärung abgegeben: Das Ziel, mit der Entfernung des Steins die Erinnerung an die Jüdin Paula Jacobson auszulöschen, werde fehlschlagen, heißt es darin. Und weiter: „Jetzt erst recht wird Hamburg sich an ihr Schicksal und an das vieler anderer Nazi-Verfolgter erinnern. Die Täter lassen wir wissen: Ihr seid allein. Ihr repräsentiert bei Weitem keine Mehrheit in der Bevölkerung!“
Und weiter schreiben die Fraktionschefs: „Uns ist wichtig, dass nun so schnell wie möglich wieder ein Stolperstein an Ort und Stelle verlegt wird. Die Kosten dafür trägt die Bezirksversammlung gerne. Denn das dezentrale Denkmal der ‚Stolpersteine‘ stärkt unsere Demokratie, indem es uns alle täglich mahnt, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Nach wie vor gilt: ‚Wehret den Anfängen!‘“
Für heute, 16 Uhr, hat das Erinnerungsprojekt „Stolpersteine in Hamburg“ dazu aufgerufen, Blumen vor der Villa Leinpfad 20 niederzulegen – eine Art stiller Protest. Die Fraktionen in der Bezirksversammlung ermuntern die Bürger, daran teilzunehmen.
MOPO-Reporter klingeln: Villenbesitzer ist nicht anzutreffen
MOPO-Reporter haben mehrfach versucht, mit Bewohnern der Villa beziehungsweise dem Hausbesitzer ins Gespräch zu kommen – vergeblich. Auf mehrfaches Klingeln meldete sich über die Gegensprechanlage nur eine Bedienstete, die sagte, sie wisse nicht, ob jemand zu Hause sei. Statt nachzusehen, forderte sie die Reporter auf, zu gehen. Zu gerne hätten wir gewusst, ob jemand nähere Informationen zum Verschwinden des Stolpersteins hat.
Unterdessen haben MOPO-Recherchen ergeben, dass das Haus eine schaurige Geschichte hat: Nicht nur, dass sich hier Paula Jacobson das Leben nahm. Eigentümer war bis 1939 der dänische Jude Alfred Moritzsen, der dann im Zuge der „Arisierungen“ gezwungen war, seine Immobilie an eine gewisse Eva Katharina Augusta Fritze für 55.000 Reichsmark zu verkaufen – ein lächerlicher Preis. Der Kaufvertrag liegt der MOPO vor.
Danach begann das dunkelste Kapitel in der Geschichte dieser wunderschönen weißen Villa: Sie wurde zum Dienstsitz des SS- und Polizeigerichts XII. Vor diesem Gericht mussten sich SS-Angehörige bei Dienstverfehlungen wie etwa Eigentums-, Treuepflicht- und Sexualdelikten verantworten. Oft kam es vor, dass sich KZ-Aufseher am Eigentum von Insassen bereicherten. In manchen Fällen wurden die Täter dann vor diesem Gericht abgeurteilt – es sei denn, die Täter hatten gute Beziehungen zum Reichsführer SS Heinrich Himmler. Dann konnte es sein, dass sie straffrei davonkamen.
Chef des SS-Gerichts war ab 1943 der Höhere SS- und Polizeiführer Georg-Henning Graf von Bassewitz-Behr (1900-1949), sozusagen Himmlers rechte Hand in Hamburg. Der mecklenburgische Adlige hatte seinen Dienstsitz im Haus Leinpfad 20. Gleichzeitig bewohnte er mit seiner Familie eine riesige Backsteinvilla nur wenige Kilometer entfernt: das Gebäude Bebelallee 80. Es existiert noch und steht derzeit leer. Sehr merkwürdig: Bis vor Kurzem hat dort eine Vermögensverwaltungsfirma namens Leinpfad 20 GmbH ihren Sitz gehabt.
Bassewitz-Behr ist mitverantwortlich für tausendfachen Mord
Bassewitz-Behr war ein grausamer Nazi, hat zigtausende Menschenleben auf dem Gewissen. Beispielsweise wurden auf seine Weisung hin im April 1945, also kurz vor Kriegsende, die letzten 71 Gefangenen des Polizeigefängnisses Fuhlsbüttel im KZ Neuengamme ermordet: zumeist Männer und Frauen des Widerstands, aber auch einige Gefangene aus der Sowjetunion.
Bassewitz-Behr wurde zwar während der alliierten Kriegsverbrecher-Prozesse, die ab 1946 im Hamburger Curiohaus stattfanden, freigesprochen, jedoch 1947 an die sowjetischen Behörden überstellt. Als SS- und Polizeiführer von Dnepropetrowsk (Ukraine) war Bassewitz-Behr 1941/42 für den Mord an 45.000 Zivilisten, Partisanen und Juden mitverantwortlich. Dafür wurde er zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er starb zwei Jahre später in einem Arbeitslager in Magadan/Ostsibirien.