Warum Corona das Risiko für Magersucht verschärft
Die Corona-Pandemie hat uns alle belastet – körperlich, finanziell oder mental. Wie muss es Menschen ergehen, die bereits zuvor mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hatten? Eine Studie zeigt, wie sehr die Beschränkung sozialer Kontakte und sowieso schon knappen Therapieangeboten die Symptome bei Menschen mit Essstörungen verschlimmert haben. Ein Experte erklärt der MOPO, warum das so ist – und wie Betroffenen geholfen werden kann.
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Die Corona-Pandemie hat uns alle belastet – körperlich, finanziell oder mental. Wie muss es Menschen ergehen, die bereits zuvor mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen hatten? Eine Studie zeigt, wie sehr die Beschränkung sozialer Kontakte und sowieso schon knappen Therapieangeboten die Symptome bei Menschen mit Essstörungen verschlimmert haben. Ein Experte erklärt der MOPO, warum das so ist – und wie Betroffenen geholfen werden kann.
Es sind erschreckende Zahlen: Bei rund 70 Prozent der Menschen mit einer Anorexia Nervosa – im Volksmund auch „Magersucht“ genannt – haben sich die Symptome der Essstörung bereits in den ersten Monaten der Corona-Pandemie verschlimmert. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie mehrerer Fachkliniken in Deutschland.
So ist zwischen März und Mai 2020 bei 63,7 Prozent der Betroffenen der Wunsch abzunehmen stärker oder viel stärker geworden. 74,8 Prozent haben noch weniger gegessen als zuvor. Und bei 74,2 Prozent der Befragten hat sich der Sportzwang etwas bis stark verschlimmert.
Mehrere Risikofaktoren kamen in der Pandemie zusammen
Dr. Alexander Spauschus, Chefarzt der Schön Klinik für Psychosomatik und Psychiatrie in Eilbek, hat die Entwicklungen im Krankenhaus mit Sorge beobachtet. „Es meldeten sich zahlreiche ehemalige Patienten bei uns, bei denen die Krankheit mit den Lockdowns wieder schlimmer geworden ist“, so der Experte.
Auch wenn die Symptome einer Essstörung schwächer werden können, ist man doch nie vollständig geheilt, erklärt Alexander Spauschus und vergleicht es mit einer Alkoholkrankheit. Nach erfolgreicher Therapie gelte man zwar als „trocken“. Doch so wie viele trockene Alkoholiker in schwierigen Lebensphasen wieder zur Flasche griffen, fingen viele Magersüchtige wieder an zu hungern und exzessiv Sport zu treiben, um abzunehmen.
In der Corona-Pandemie kamen gleich mehrere Risikofaktoren zusammen. „Für Berufstätige, Schüler und Studenten fiel ein großer Teil der Alltagsstruktur durch Homeoffice und Home-Schooling weg“, so Spauschus. „Gleichzeitig hatten sie kaum noch Kontakt zu ihren Freunden. Gab es hingegen Probleme im Elternhaus oder mit dem Partner, wurden die durch das permanente ,Aufeinanderhocken‘ extrem verschärft.“ Viele Betroffene hätten kaum noch Rückzugsorte und Privatsphäre gehabt und sich in die Magersucht geflüchtet: „Die Patienten nutzen die Krankheit als Regulationsmechanismus. Sie haben das Gefühl, nichts in der Welt kontrollieren zu können – außer ihrem Gewicht und ihrem eigenen Körper.“
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Eine Betroffene berichtet der MOPO im Rahmen der Recherche von der großen Hilflosigkeit, als ihre Mutter ins Homeoffice ging. „Ich war sowieso schon in einer schwierigen Phase“, erzählt sie, „mitten im Abi konnte ich plötzlich nicht mehr zur Schule gehen und habe für Prüfungen gelernt, die vielleicht gar nicht stattfinden sollten. Wir haben eine kleine Wohnung, meine Mutter saß in der Küche und hat gearbeitet. Ich hatte nie wirklich meine Ruhe. Nach Feierabend hat sie nur über die Arbeit geredet. Berufliches und Privates haben sich vermischt. Das, der Wegfall von sozialen Kontakten und die Unsicherheit bezüglich meines Abis haben mir das Gefühl von Kontrollverlust gegeben.“
Corona-Pandemie verschärft Risiko für Magersucht
Problematisch war es auch, wenn Magersüchtige alleine lebten und in Zeiten von Lockdowns und Social Distancing niemand auf eine Gewichtsabnahme aufmerksam wurde. „Im Homeoffice hatte ich noch mehr Raum und Zeit, mein eigenes gefährliches Ding zu machen“, berichtet eine Betroffene. „Ich habe kaum noch gegessen und so viel Sport gemacht wie möglich.“
In den Asklepios-Kliniken habe man beobachtet, dass auch 40- bis 60-jährige ehemalige Anorexie-Patienten durch die Pandemie rückfällig wurden, berichtet Pressesprecher Mathias Eberenz. Die 41-jährige Sibylle aus der Schweiz leidet seit mehr als 20 Jahren an Magersucht. In der Corona-Pandemie wurde es richtig schlimm. Als Ursachen nennt sie der MOPO: „Noch mehr Kontrollverlust, Enge im kleinen Haushalt, Angst, die Essstörung nicht mehr ausleben zu können. Ich habe Essanfälle bekommen und danach heimlich alles wieder erbrochen.“
Dr. Alexander Spauschus möchte Betroffene ermutigen, sich Hilfe zu suchen. „Mit einer guten Therapie können die Symptome nahezu wieder verschwinden. Ein erster Schritt wäre der Gang zum Hausarzt oder zu einer Beratungsstelle wie zum Beispiel Waage e.V. in Eimsbüttel.“
Social Distancing besonders gefährlich für Magersüchtige
In Pandemiezeiten habe rund ein Viertel der Betroffen ihre Psychotherapie zeitweise nicht weiterführen können. Hier hätten schneller mehr Online-Angebote geschaffen werden müssen, sagt Alexander Spauschus. Um die Betroffenen auch nach der Pandemie zu unterstützen, sei es wichtig, die Finanzierung von Beratungsangeboten wie Waage e.V. weiterhin sicherzustellen.
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Außerdem appelliert der Experte an die Politik, für eine bessere Verzahnung von ambulanten und stationären Therapieangeboten zu sorgen. Diese würden zurzeit aus verschiedenen Töpfen bezahlt, weshalb Krankenhäuser beispielsweise Schwierigkeiten hätten, Tageskliniken anzubieten oder ihre Patienten nach der Entlassung ambulant weiter zu betreuen. Dabei sei es gerade in dieser Phase wichtig, dass die Betroffenen weiter von den gleichen Bezugspersonen betreut werden.