Eigenmächtig umbenannt: Warum es um diese Hamburger Straße Streit gibt
Die Sedanstraße in Rotherbaum soll bald nicht mehr Sedanstraße heißen – jedenfalls wenn es nach einigen Hamburgerinnen und Hamburgern geht. Sie fordern eine Umbenennung – und demonstrierten bereits, wie diese aussehen könnte.
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Die Sedanstraße in Rotherbaum soll bald nicht mehr Sedanstraße heißen – jedenfalls wenn es nach einigen Hamburgerinnen und Hamburgern geht. Sie fordern eine Umbenennung – und demonstrierten bereits, wie diese aussehen könnte.
Nicht die Soldaten, die Deserteure waren die eigentlichen Helden des Krieges! Sie sagten Nein zu Hitlers Massenmord, riskierten dafür am nächsten Baum aufgeknüpft oder standrechtlich erschossen zu werden. So wie der Hamburger Ludwig Baumann.
Mit sehr viel Glück überlebte er die NS-Zeit und kämpfte als Vorsitzender der „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz“ jahrzehntelang für die Rehabilitierung der Betroffenen. Nun soll eine Straße nach dem 2018 verstorbenen Mann benannt werden. Nicht irgendeine, sondern ganz bewusst die Sedanstraße in Rotherbaum, die an eine Schlacht, ein Gemetzel erinnert, bei dem Zigtausende Soldaten ihr Leben ließen.
Die Forderung, aus der Sedan- die Ludwig-Baumann-Straße zu machen, wird schon seit Dezember 2020 von mehreren Friedensinitiativen, studentischen Arbeitsgruppen der Universität Hamburg sowie vom Bündnis Deserteursdenkmal erhoben. Aber obwohl Gespräche mit Parteienvertretern aus der Bezirksversammlung anfangs sehr erfreulich verliefen, tut sich nichts. Seit Monaten schon.
Forderung: Sedanstraße in Hamburg soll umbenannt werden
So kam die Idee auf, der Forderung durch eine ungewöhnliche Aktion Nachdruck zu verleihen: Mitglieder der Initiativen nahmen die Straßenumbenennung symbolisch vorweg. Eine Trittleiter wurde aufgestellt, der 23-jährige Sören kletterte hoch und fügte zum alten Straßennamen den neuen hinzu. Nur für ein Foto. Hinterher wurde alles wieder entfernt. Aber mit der Aktion ist die Hoffnung verbunden, dass nun endlich die Fraktionen in der Bezirksversammlung aktiv werden.
Und das möglichst schnell. Denn ein ganz bestimmtes Datum bietet sich für die Umbenennung an: der 30. Juni. An diesem Tag vor 80 Jahren verurteilte ein Kriegsgericht Ludwig Baumann zum Tode.
1942 verurteilt ein Kriegsgericht Baumann zum Tode – mit Glück überlebt er
Als Sohn eines Tabakgroßhändlers wird er am 13. Dezember 1921 in Hamburg geboren. Der Junge macht eine Maurerlehre. Nach ihrer Beendigung wird er 1942 direkt zur Marine eingezogen und ins besetzte Frankreich geschickt. Er erkennt bald: „Ich kann das nicht. Töten.“ Und gemeinsam mit seinem gleichgesinnten Freund Kurt Oldenburg schlägt er sich in die Büsche.
Der Plan der beiden jungen Männer sieht so aus: Sie wollen zunächst ins unbesetzte Vichy-Frankreich, von dort nach Marokko und weiter nach Amerika. Unterstützung erhalten sie von französischen Widerstandskämpfern, die ihnen Adressen von Leuten geben, die ihnen helfen würden. Aber nur wenige Stunden nach ihrer Flucht werden die beiden Deserteure von einer deutschen Zollstreife geschnappt.
Baumann wird verhört, blutig geprügelt, verrät die Franzosen aber nicht. Schließlich wird er wegen Fahnenflucht in Bordeaux vor Gericht gestellt. Die Verhandlung findet am 30. Juni 1942 statt, dauert 40 Minuten. Am Ende steht das Todesurteil.
Nach dem Krieg kämpft Baumann für die Rehabilitierung der Opfer der NS-Militärjustiz
Zehn Monate zittert der an Händen und Füßen Gefesselte in seiner kargen Zelle. Jeden Morgen, wenn die Tür aufgeht, denkt er: Jetzt holen sie dich! Wenn sich die Tür wieder schließt, atmet er durch: noch einen Tag leben. „Dieses Grauen, diese Angst verfolgen mich noch heute in meinen Träumen“, sagt er 2015 in einem Interview mit der MOPO.
Worüber der verurteilte Deserteur Ludwig Baumann ganz bewusst über Monate im Unklaren gelassen wird: dass er längst begnadigt ist. Inständig hat Baumanns Vater bei Großadmiral Erich Raeder um das Leben seines Sohnes nachgesucht. Erfolgreich.
Statt erschossen zu werden, soll Baumann nun zwölf Jahre ins Zuchthaus. Er kommt ins KZ Esterwegen, dann ins Militärgefängnis nach Torgau, schließlich zum Strafbataillon nach Weißrussland – als Kanonenfutter für die Ostfront. Ein Schulterdurchschuss rettet ihm schließlich das Leben.
Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes wird Baumann die Anerkennung als Verfolgter versagt. Er und seinesgleichen gelten weiter als „Drückeberger“. Einmal wird Baumann auf der Straße von ehemaligen Kriegskameraden zusammengeschlagen. „Als ich zur Polizei ging, um das anzuzeigen, wurde ich von den Beamten nochmals vermöbelt.“
Deserteure werden nach 1945 diskriminiert: als „Feiglinge“ und „Drückeberger“
Baumann bewirbt sich im öffentlichen Dienst. Ohne Erfolg. Einen „Feigling“ wie ihn will keiner. Derweil machen andere Karriere in diesem Staat: Hans Karl Filbinger (CDU) beispielsweise wird Ministerpräsident von Baden-Württemberg – ein ehemaliger Marinerichter, der noch bis kurz vor Kriegsende „Wehrkraftzersetzer“ wie Baumann in den Tod geschickt hat.
Ludwig Baumann flüchtet sich in den Alkohol, vertrinkt Vaters Erbe, kommt erst zu sich, als seine Frau bei der Geburt des sechsten Kindes stirbt. Dann endlich nimmt er den Kampf um seine Würde auf. 1990 gründen er und 36 andere ehemalige Deserteure die „Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e. V.“ Baumann wird ihr Vorsitzender, bekommt Drohbriefe von alten und neuen Nazis. In einem wird ihm empfohlen: „Nehmen Sie Zyankali!“
Doch er lässt sich nicht beirren und erreicht sein Ziel: Am 17. Mai 2002 hebt der Bundestag die meisten NS-Militärgerichtsurteile auf: Volle Rehabilitierung von Deserteuren, Kriegsdienstverweigerern, Wehrkraftzersetzern. Nun endlich, 60 Jahre nach dem Todesurteil, gilt auch Baumann nicht mehr als vorbestraft.
2015 geht sein größter Traum in Erfüllung: Direkt neben dem 76er-Denkmal am Stephansplatz, auf dem eingemeißelte Soldaten in Reih und Glied marschieren und an den angeblichen Heldenmut des Infanterieregiments 76 erinnern, also genau neben diesem hässlichen Kriegsklotz, wird ein Deserteursdenkmal eingeweiht. Eine späte Würdigung für die wahren Helden. Für die, die den Mut hatten, Nein zu sagen.
Ludwig Baumann bekommt 1995 den Aachener Friedenspreis, wird 1996 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, erhält 2007 den Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon in Bremen und 2014 den Franco-Paselli-Friedenspreis der Internationalen Friedensschule Bremen. Am 5. Juli 2018 stirbt er in Bremen. Eine Straße ist nicht nach ihm benannt. Noch nicht. Es wäre eine wichtige Geste.
„Sedan“ — das steht für Krieg, Hass und Gemetzel
Die Sedanstraße in Rotherbaum: Möglicherweise haben sich nur wenige Passanten und Anwohner je Gedanken darüber gemacht, was es mit dem Namen dieser Straße auf sich hat. Und deshalb werden manche gar nicht verstehen, was das soll mit der Umbenennung.
Sedan, das ist eine französische Stadt an der Grenze zu Belgien – und vor 150 Jahren Schauplatz einer blutigen Schlacht. Sedan, das steht für Hunderttausende getöteter Menschen, für Kriegsgemetzel, für deutschen Größenwahn.
Diejenigen, die sich der Initiative „Sedanstraße umbenennen!“ angeschlossen haben, sind der Meinung, der Feindschaft mit Frankreich eine Straße zu widmen, das ist heute, da die Freundschaft beider Länder ein hohes Gut ist, nur schwer hinnehmbar.
Wir schreiben das Jahr 1870: Preußen, der Norddeutsche Bund und die mit ihnen verbündeten süddeutschen Staaten stehen mit Frankreich im Krieg. Der Anlass ist lächerlich: ein Streit um die spanische Thronfolge. In Wahrheit geht es um was ganz anderes. Darum, dass der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck sein Ziel verwirklichen will: die Einheit Deutschlands unter preußischer Führung. Und das geht nur, wenn Frankreich am Boden liegt.
Bei Sedan findet am 1. und 2. September 1870 die Entscheidungsschlacht des Deutsch-Französischen Krieges statt. Die deutschen Truppen siegen so deutlich, dass sich Frankreichs Kaiser Napoleon III. tags darauf in preußische Gefangenschaft begibt. 50.000 deutsche und 140.000 französische Soldaten bleiben auf den Schlachtfeldern zurück, zerfetzt, erschossen, verstümmelt.
Wenige Monate später, am 18. Januar 1871, wird im Schloss von Versailles die endgültige Niederlage Frankreichs gefeiert und der bisherige preußische König zum Deutschen Kaiser Wilhelm I. proklamiert.
Der 2. September wird im Kaiserreich gefeiert: Sedantag
Die blutige Schlacht von Sedan und die Kaiserkrönung begeistern Adel, Militär und Bürgertum so sehr, dass der sogenannte Sedantag (2. September) im Kaiserreich zum Feiertag erhoben wird. Überall im Land werden alljährlich patriotische Lieder gesungen, Freudenfeuer veranstaltet, die Straßen sind geschmückt, es gibt Umzüge der Veteranen, Musikkapellen spielen und Festreden werden gehalten. Schließlich wird 1899 in Hamburg die ehemalige Louisenstraße – um die Ecke an der Bundesstraße befinden sich damals die Kasernen des Infanterie-Regiments 76 – in Sedanstraße umgetauft. Als Erinnerung an den Sieg über Frankreich, den Erbfeind.
Das alles ist anachronistisch, finden die Mitglieder der Initiative. Aus einer Straße, die für Krieg, Feindschaft und Hass steht, soll eine Straße des Pazifismus werden – und daher wurde als Namensgeber der Deserteur Ludwig Baumann ausgewählt. Auch die Vertreter der SPD, der Linken und der Grünen, die sich mit der Initiative „Sedanstraße umbenennen!“ bereits trafen, hielten das für eine gute Idee.
Warum trotzdem bislang nichts geschehen ist? Die MOPO hat beim Bezirksamt Eimsbüttel nachgefragt. Pressesprecher Kay Becker teilt mit, dass bislang von keiner Fraktion ein entsprechender Antrag gestellt worden sei. Der sei aber notwendig. Denn dann könne die Bezirksversammlung darüber abstimmen. Als letzte Instanz werde schließlich die Kulturbehörde über eine Umbenennung entscheiden.
Klingt fast so, als würde sich die Angelegenheit noch etwas hinziehen.
NS-Justiz: Kurzer Prozess mit Deserteuren
15.000 desertierte Wehrmachtssoldaten wurden während des Zweiten Weltkriegs hingerichtet. Eine genauso große Zahl wurde wegen „Wehrkraftzersetzung“ erschossen. Wie viele Menschen in Hamburg der NS-Militärjustiz zum Opfer fielen, ist nicht genau bekannt, weil die entsprechenden Akten bei einem Bombenangriff auf das Potsdamer Militärarchiv gegen Kriegsende vernichtet wurden. Geschätzt wird, dass es zwölf Wehrmachtsgerichte in Hamburg gab (deutschlandweit waren es 3000). An zwei Orten in Hamburg wurden Todesurteile vollstreckt: auf dem Truppenübungsplatz Höltigbaum, wo mehr als 100 Soldaten erschossen wurden. Im Untersuchungsgefängnis Holstenglacis starben 49 Militärangehörige unterm Fallbeil.