Sogar die Taliban schicken ihre Töchter hin: Norddeutsche halten Schulen offen
Eigentlich dürfen Mädchen in Afghanistan kaum noch zur Schule gehen. Einige tun es dennoch – denn dem Verein „Afghanistan Schulen“ aus Oststeinbek bei Hamburg gelingt derzeit ein großes Wunder: Er hält mehrere Schulen in dem Krisenland geöffnet. Sogar die Taliban schicken ihre Töchter dorthin. Doch immer wieder torpedieren die Fanatiker in der Hauptstadt das Erfolgsprojekt.
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Eigentlich dürfen Mädchen in Afghanistan kaum noch zur Schule gehen. Einige tun es dennoch – denn dem Verein „Afghanistan Schulen“ aus Oststeinbek bei Hamburg gelingt derzeit ein großes Wunder: Er hält mehrere Schulen in dem Krisenland geöffnet. Sogar die Taliban schicken ihre Töchter dorthin. Doch immer wieder torpedieren die Fanatiker in der Hauptstadt das Erfolgsprojekt.
Der Bericht im „heute journal“ ging vielen Zuschauern nahe: afghanische Mädchen in einer geheimen Schule, die bittere Tränen weinen, weil die Taliban ihnen den Besuch ihrer bisherigen Schule verboten haben.
An einigen Orten in dem Land ist Unterricht allerdings weiter möglich: Ein Verein aus der Nähe von Hamburg unterstützt die Menschen vor Ort, weiter Bildung für Mädchen und Frauen anzubieten. Die Einrichtungen, die „Afghanistan Schulen“ unterstützt, sowie dessen eigenen Ausbildungszentren liegen im Norden des Landes, in Mazar-i Sharif, und in der Region Andkhoi (Provinz Faryab) im Nordwesten – 800 Kilometer und hohe Gebirge trennen das Gebiet von der Hauptstadt Kabul. Seit den 90er Jahren ist „Afghanistan Schulen“ hier aktiv.
Vereinsgründerin Ulla Nölle aus Oststeinbek hatte bei einer Reise zufällig die Bekanntschaft einer jungen afghanischen Lehrerin gemacht. In den folgenden Jahrzehnten wurden Andkhoi und die umliegenden Dörfer zu ihrer zweiten Heimat – auch während der ersten Herrschaft der Taliban war der norddeutsche Verein bereits vor Ort.
Verein in Oststeinbek unterstützt Mädchen in Afghanistan
„Wir sind in der Region bekannt und tief verwurzelt“, sagt die Vereinsvorsitzende Marga Flader: „Auch die örtlichen Taliban kennen uns, teilweise waren sie selbst oder ihre Söhne und Töchter auf unseren Schulen, oder ihre Frauen besuchen unsere Frauenzentren.“ Derzeit ist afghanischen Mädchen nur in 13 der 36 Provinzen der Schulbesuch erlaubt.
Die alten und intensiven Kontakte des Vereins kommen nun den Frauen und Mädchen in der Region zugute: In allen Schulen, auch in den Frauenzentren läuft der Unterricht derzeit normal, berichtet Marga Flader: „Die örtliche Schulbehörde hat die Schulen auch für die Mädchen bis Klasse 12 geöffnet. Sie hielt es nicht einmal für nötig, dass die Fortbildungen für die Schulleitungen getrennt nach Frauen und Männern stattfanden.“
Probleme tauchen immer dann auf, wenn übergeordnete Taliban den „liberalen“ örtlichen Machthabern in die Quere kommen. Im Frühjahr 2022 etwa schickten die religiösen Hardliner in Kabul alle Mädchen ab der 7. Klasse nach Hause. Begründung: Es bestehe noch keine Klarheit über eine Scharia-konforme Schuluniform. Marga Flader: „Die Wut der Mädchen und ihrer Eltern und Lehrerinnen war gewaltig.“
Vorteil für Mädchen: Taliban sind sich nicht einig
Was die Projekte des Vereins rettete: die Uneinigkeit der Taliban. In den nördlichen Provinzen ignorierten einige lokale Machthaber die Vorgaben aus Kabul, andere erfüllten sie in vorauseilendem Gehorsam. Chaotische Zeiten: Die drei Frauenzentren des Vereins in Andkhoi wurden geschlossen, nachdem einige Taliban die Frauen auf der Straße bedroht hatte. „Der tagelange Stillstand missfiel den Frauen sehr, sie trafen sich privat, waren nicht bereit, aufzugeben“, sagt Marga Flader.
Das Ausbildungszentrum, in dem besonders begabte Kinder mit Zusatzunterricht auf ein Studium vorbereitet werden, sollte nach dem Willen einiger Taliban nur noch Jungen offenstehen: „Das kam für uns aber nicht in Frage“, sagt die Vereinsvorsitzende. Der Verein schloss das Zentrum zeitweilig. Die Botschaft: Entweder Jungen und Mädchen werden unterrichtet, oder niemand.
Zum Glück waren die Ältesten und die lokalen Taliban damit nicht zufrieden: Der Bürgermeister persönlich setzte sich dafür ein, dass alle Einrichtungen wieder öffneten, auch für Mädchen, weil die Schulen wichtig seien für die gesamte Region.
Nur in 13 Provinzen dürfen Mädchen zur Schule gehen
Dennoch ereilte den Verein vor wenigen Tagen ein neuer Schock: Der Bildungsminister der Provinz steht den Hardlinern in Kabul nahe und hat das Ausbildungszentrum für besonders begabte Kinder nun doch geschlossen. „Wir sollen eine Genehmigung vom Bildungsministerium in Kabul einholen“, sagt Marga Flader, hörbar betroffen. Nun wollen der Schulleiter und der lokale Taliban-Schulrat versuchen, in der Provinzhauptstadt für eine Wiedereröffnung zu werben, notfalls auch die beschwerliche Reise nach Kabul auf sich nehmen.
Und bis dahin? „Wir haben immer kreative Wege gefunden“, sagt Marga Flade: „Notfalls bekommen die Kinder ihren Zusatzunterricht erst einmal in den normalen Schulen, dann ist das wie Nachsitzen.“
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Hoffnung macht eine Mail, die die Vereinsvorsitzende vor einigen Woche erhielt. Der Gouverneur von Andkhoi, so schrieb dort einer der örtlichen Mitarbeiter, habe seine Leute angewiesen, dem Verein aus dem fernen Deutschland die besten Bedingungen zu bieten. Die blumige Begründung des lokalen Taliban-Chefs: „Nicht-Regierungsorganisationen sind wie fliegende Vögel, die bei jeder Störung die Flucht ergreifen, so dass die Gesellschaft nicht von ihrer Hilfe profitieren kann.“ Leider sehen die Fanatiker weiter oben in der Hierarchie das anders.
Wer mehr über die Projekte erfahren will: Am 24. September ab 18.30 Uhr lädt der Verein zu einem Afghanistan-Abend im Bürgersaal Kratzmannscher Hof in Oststeinbek, Möllner Landstraße 22.