„Sie folterten mich, sie verpassten mir Stromschläge am ganzen Körper“
Mehrere Stunden hat Kenan Ayas, der angeklagte mutmaßliche PKK-Terrorist, geredet. Seine Erklärung nahm zwei volle Verhandlungstage in Anspruch. Was er sagte, war so erschreckend, dass seinen wenigen Zuhörern im Gerichtssaal regelrecht das Blut in den Adern gefror. Er berichtete von Lynchmord, von Vergewaltigung und bestialischen Foltermethoden. Ayas‘ Rede war eine einzige Abrechnung mit dem türkischen Staat..
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Mehrere Stunden hat Kenan Ayas, der angeklagte mutmaßliche PKK-Terrorist, geredet. Seine Erklärung erstreckte sich über zwei Verhandlungstage. Was er sagte, war so erschreckend, dass seinen wenigen Zuhörern im Gerichtssaal regelrecht das Blut in den Adern gefror. Manche hatten Tränen in den Augen. Er berichtete von Lynchmord, von Vergewaltigung und bestialischer Folter. Ayas’ Rede – eine einzige Abrechnung mit Erdogans Türkei.
Der Prozess gegen Kenan Ayas findet weitgehend unbeachtet von der deutschen Öffentlichkeit vor einer Staatsschutzkammer des Hanseatischen Oberlandesgerichts statt. Aufgrund eines Europäischen Haftbefehls wurde der 48-Jährige im März 2023 auf Zypern festgenommen, wo er zuletzt als anerkannter politischer Flüchtling lebte. Anschließend lieferte ihn die zypriotische Justiz an Deutschland aus.
„Kampf der kurdischen Bewegung gegen Völkermord wird als Terrorismus bezeichnet“
Ayas, der nach Überzeugung der Bundesanwaltschaft in führender Position für die PKK tätig gewesen ist, bestreitet die Vorwürfe und bezeichnet das Verfahren gegen sich als politisch motiviert. „Das Verfahren stellt sich für mich so dar, dass ich hier in meiner Identität als Kurde und wegen meiner Haltung angeklagt bin. Der Kampf der kurdischen Bewegung gegen Völkermord und für ihre Existenz und Freiheit wird in der Anklage als Terrorismus bezeichnet. Wir Kurden haben am eigenen Leib erfahren, was Terrorismus wirklich ist, was völlig entgrenzte Grausamkeit bedeutet.“
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Und er begann zu erzählen: Dass er 1975 in einer kurdisch dominierten gebirgigen Gegend in Südostanatolien auf die Welt kam, dass er als kleiner Junge ganz aufgeregt der Einschulung entgegengesehen habe. Dann der erste Schock seines Lebens: Im Unterricht wurde eine Sprache gesprochen, die er gar nicht beherrschte. Türkisch.
„Ich habe Türkisch unter Schlägen gelernt. Es war strikt verboten, in der Schule Kurdisch zu sprechen, dennoch taten wir es manchmal in den Pausen heimlich. Wenn das von einem Mitschüler gemeldet wurde, wurden wir verprügelt.“ Jeder Schultag habe mit einem Eid begonnen. „Ein Schüler stand auf einem hohen Podest, sprach den Eid Satz für Satz vor und wir mussten ihn wiederholen. Der Eid begann mit: ,Ich bin Türke, ehrlich und fleißig.‘ Und endete mit: ,Mein Dasein soll der türkischen Existenz ein Geschenk sein. Wie glücklich derjenige, der sagt, ich bin Türke!‘“
Einmal habe er es gewagt, den Text abzuändern: „Ich bin Kurde, ich bin ehrlich und fleißig.“ Ayas: „Ein Lehrer forderte mich daraufhin auf, vor die Schüler zu treten und schlug minutenlang auf mich ein. Ich war elf Jahre alt. Später wurde mir klar, dass sie auf diese Weise meinen Willen und mein Selbstvertrauen brechen und andere Schüler einschüchtern wollten.“
„Faschisten griffen unsere Häuser an, lynchten Kurden auf offener Straße“
1990 ging Kenan Ayas nach Alanya, wo sein älterer Bruder ein Hotel betrieb. Dort habe es einen starken antikurdischen Rassismus gegeben. „Dies nutzte die staatliche Propaganda aus, um gegen die Kurden Stimmung zu machen. Sie schürten Neid und versetzten die Bevölkerung in Angst, dass die Kurden dem Tourismus schaden würden. Scheinbar spontan, aber doch wie auf Knopfdruck, kam es zu Übergriffen gegen Kurden und auf kurdische Geschäfte. Insbesondere dann, wenn Soldaten bei Kämpfen mit der PKK getötet worden waren, war es für uns sehr gefährlich. Faschisten griffen unsere Häuser an, brannten sie nieder. Sie lynchten Kurden auf offener Straße.“
Ayas war gerade 18 alt, als er 1993 festgenommen wurde. Ihm wurde zum Vorwurf gemacht, Mitglied der PKK zu sein, der kurdischen Untergrundorganisation. Später hat Ayas erfahren, wie es dazu kam. „Ein Kurde, den ich nur einmal im Leben gesehen hatte, war so schwer von der Polizei gefoltert worden, dass er – um die Qualen zu beenden – , alles aussagte, was die Polizei hören wollte. Er belastete Menschen, denen er nur mal die Hand geschüttelt hatte.“
„Ich habe ihre Schreie und ihr Flehen nie vergessen. Ich höre diese Schreie immer noch“
Er und auch sein mitinhaftierter 13-jähriger Bruder seien unbeschreiblich gefoltert worden, erzählt Ayas. „Sie haben mir am ganzen Körper Stromschläge verpasst, besonders an den Händen und Zehen. Sie zwangen mich zu Boden und schlugen mir viele Mal auf die Fußsohlen.“
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Eines Tages sei die Polizei in einer Nachbarzelle über ein Paar hergefallen. „Sie haben die Frau vor den Augen des Mannes vergewaltigt. Sie haben den Mann vor den Augen der Frau vergewaltigt. Ich höre ihre Schreie und ihr Flehen immer noch.“
Am Ende eines 15-tägigen Martyriums habe er mit geschlossenen Augen alles unterschrieben, was die Polizei ihm vorlegte: Vom Inhalt habe er erst erfahren, als Anklage gegen ihn erhoben wurde. Das Staatssicherheitsgericht verurteilte Ayas zu 15 Jahren Gefängnis. 15 Jahre, die nach seinen Schilderungen geprägt waren von Willkür, Erniedrigung und Folter.
2004 – elf Jahre nach seiner Verhaftung – kam Ayas aus dem Gefängnis frei. Er habe lange gebraucht, um sich von seinen körperlichen und seelischen Leiden zu erholen. Er habe dann zusammen mit anderen Intellektuellen eine Akademie gegründet, die sich der Bildung der Bevölkerung verschrieben habe. „Es war unser Ziel, dass niemand aufgrund seiner Identität, seiner Kultur, seines Glaubens oder seines Geschlechts diskriminiert wird. Wir wollten versuchen, eine gemeinsame demokratische Kultur des Zusammenlebens zu entwickeln.“
„Ich bin nach Zypern geflohen, um nicht nochmal unschuldig in türkischen Kerkern zu verschwinden“
Lange Zeit habe der Verein ungestört seiner Arbeit nachgehen können. 2009 aber war es damit vorbei. Der Grund: Kenan Ayas unterstützte aktiv den Wahlkampf eines Freundes, den er aus dem Gefängnis kannte und der für die damals legale (und inzwischen verbotene) kurdische Partei DTP als Bürgermeister kandidierte. Das Wahlergebnis sei gefälscht worden, so Ayas. Nachdem der Kandidat der Erdogan-Partei AKP zum Sieger erklärt worden war, kam es zu Protesten und gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei. Kenan Ayas wurde festgenommen, vor Gericht gestellt, aber schließlich freigesprochen.
Allerdings begann kurz nach seiner Freilassung eine Verhaftungswelle in der Türkei: Zahlreiche Vertreter der kurdischen Zivilgesellschaft wurden inhaftiert und beschuldigt, Mitglieder der PKK zu sein. Auch Ayas stand auf der Fahndungsliste – und aus Furcht, „noch einmal für unzählige Jahre unschuldig in türkischen Kerkern zu verschwinden, misshandelt und gefoltert zu werden“, sei er aus der Türkei geflohen.
Seit 2010 lebte er in Zypern als anerkannter politischer Flüchtling – bis im Mai 2022 die Bundesanwaltschaft einen internationalen Haftbefehl erließ und die Auslieferung beantragte.
Auffallend ist, dass der Haftbefehl zeitlich zusammenfiel mit dem NATO-Gipfel in Madrid, auf dem mit der Türkei über den Beitritt Schwedens und Finnlands verhandelt wurde. Seither macht die Türkei ihre Zustimmung zum Beitritt Schwedens zur NATO von Zugeständnissen bei der Verfolgung von Kurden in Europa abhängig.
Bei seinem Deutschland-Besuch lobte Erdogan die deutsche Justiz
Während seines Deutschland-Besuches vor ein paar Tagen sagte Recep Tayyip Erdogan, der türkische Machthaber, laut FAZ einen Satz, der aufhorchen lässt. Dass ein „neues Kapitel unserer tiefen Beziehungen“ aufgeschlagen und er sehr erfreut sei, dass vor dem Oberlandesgericht Hamburg ein Strafprozess gegen den PKK-Terroristen Ayas stattfinde. Für Ayas‘ Verteidiger ein neuerliches Indiz, dass sich die Bundesanwaltschaft zum Vollstrecker des türkischen Präsidenten macht.
Was Ayas vorgeworfen wird? Er soll zwischen 2018 und 2020 unter anderem in Hamburg Leitungsaufgaben als hauptamtlicher PKK-Kader wahrgenommen haben. In dieser Funktion habe er Demonstrationen und Spendensammlungen zugunsten der PKK organisiert. Er steht also nicht etwa vor Gericht, weil er Anschläge verübt oder Menschen verletzt oder getötet hätte. Allein auf die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung stehen bis zu zehn Jahre Haft.
Bundesanwaltschaft wirft Ayas vor, die PKK in Hamburg geführt zu haben
An einem der letzten Verhandlungstage sagte der BKA-Beamte aus, der die PKK-Ermittlungen in Deutschland leitet. „Der Beamte konnte trotz mehrfacher Nachfragen des Gerichts und der Verteidigung nicht erklären, warum plötzlich vor dem NATO-Gipfel 2022 der Haftbefehl von der Bundesanwaltschaft beantragt worden war“, schreiben Ayas‘ Verteidiger. „Im Gegenteil gab er an, dass die letzten relevanten Ermittlungshandlungen in dem Strafverfahren rund zwei Jahre vor Beantragung des Haftbefehls erfolgt waren und es seit dieser Zeit faktisch nicht mehr betrieben wurde. Erst vor dem NATO-Gipfel reaktivierte die Bundesanwaltschaft das Verfahren.“
Ist Kenan Ayas‘ Auslieferung beantragt worden, um Erdogan milde zu stimmen? Ist Ayas ein Bauernopfer?
Zum Hintergrund: Bei der PKK, der Kenan Ayas angehören soll, handelt es sich um eine kurdische Untergrundorganisation, die in der Türkei und den angrenzenden Ländern Syrien und Irak für die politische Autonomie kurdisch besiedelter Gebiete kämpft. Ihr militärischer Arm verübte immer wieder Anschläge insbesondere auf türkische Sicherheitskräfte. Das Ziel der PKK ist je nach Lesart die Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates oder ein „demokratisches autonomes Kurdistan“ innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen. In Deutschland ist die PKK als Terrororganisation eingestuft und seit 1993 verboten.