Ermittlungsstau bei Sexualstraftaten: „Aussage wäre ein Riesenskandal“
Eine Frau wird vergewaltigt, bringt es zur Anzeige und es passiert – nichts. Der Grund: Die zuständigen Ermittler sind überlastet, der Fall bleibt liegen. Das berichten Beratungsstellen und der Bund Deutscher Kriminalbeamter in Hamburg. Lässt Hamburgs Polizei die Opfer schwerster Verbrechen also einfach im Stich?
Es hört sich nach einem Skandal an: Eine junge Frau berichtet dem NDR, dass sie vergewaltigt wurde. Sie sei zur Polizei gegangen, habe die Tat geschildert und den Täter benannt. Doch dann habe sie erfahren, dass die Ermittler zwar mehrfach mit ihr sprachen, jedoch nicht mit dem beschuldigten Mann. Jan Reinecke vom Bund deutscher Kriminalbeamter sagt in dem Bericht, die zuständige LKA-Abteilung sei „unterbesetzt und überfordert“. Auf die Erklärungsversuche der Polizeipressestelle reagiert er wütend.
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Eine Frau wird vergewaltigt, bringt es zur Anzeige und es passiert – nichts. Der Grund: Die zuständigen Ermittler sind überlastet, der Fall bleibt liegen. Das berichten Beratungsstellen und der Bund Deutscher Kriminalbeamter in Hamburg. Lässt Hamburgs Polizei die Opfer schwerster Verbrechen also einfach im Stich?
Es hört sich nach einem Skandal an: Eine junge Frau berichtet dem NDR, dass sie vergewaltigt wurde. Sie sei zur Polizei gegangen, habe die Tat geschildert und den Täter benannt. Doch dann habe sie erfahren, dass die Ermittler zwar mehrfach mit ihr sprachen, jedoch nicht mit dem beschuldigten Mann.
Man habe den Tatverdächtigen über Wochen nicht einmal mit dem Vorwurf konfrontiert. Ihre Erfahrung wird von Insidern des LKA gegenüber dem NDR bestätigt: Ermittlungen blieben dort zum Teil monatelang liegen. Jan Reinecke vom Bund deutscher Kriminalbeamter sagt in dem Bericht, die zuständige LKA-Abteilung sei „unterbesetzt und überfordert“.
Hamburg: Polizei-Sprecher weist Vorwurf zurück
Einer Vergewaltigung wird nicht nachgegangen, weil die Polizei ihr Personalmanagement nicht im Griff hat? Polizeisprecher Holger Vehren widerspricht gegenüber der MOPO vehement: „Hier wird (…) der Eindruck erweckt, dass schwere Straftaten nicht bearbeitet werden, was schlicht und einfach falsch ist!“
Was stimme: Die Beamten hätten extrem viel zu tun und es gebe in der Tat auch Fälle, die derzeit nicht bearbeitet werden könnten. „Aktuell übersteigt die Anzahl der eingehenden Ermittlungsaufträge die Sachbearbeitungs-Kapazitäten der Mitarbeiter.“
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Tatsächlich scheint sexualisierte Gewalt in Hamburg zuzunehmen – zumindest steigt die Zahl der Anzeigen. Das zeigt die jüngste Kriminalstatistik von 2020. Im Vergleich zum Jahr davor stieg die Zahl von Vergewaltigungen, sexueller Nötigung und sexuellen Übergriffen in besonders schwerem Fall um knapp 36 Prozent.
Bearbeitet werden die Anzeigen vom Fachkommissariat LKA 42. Für die Ermittlungen stehen dort 44 Polizeibeamte zur Verfügung. Insgesamt wurden bis Ende Januar 656 Ermittlungen durchgeführt, sagt Vehren. Bedeutet: Jeder Beamte hat rein rechnerisch knapp 15 Fälle bearbeitet. 115 Fälle blieben hingegen bis Ende Dezember liegen.
LKA: Sexualdelikte bleiben unbearbeitet
Diese unbearbeiteten Vorfälle seien jedoch keine schweren Delikte des Sexualstrafrechts wie Vergewaltigungen. Was liegen bleibe, seien geringere Delikte, meist „ohne Ermittlungsansatz“. Vehren stellt klar: „In Hamburg muss sich keiner Sorgen machen, dass eine Vergewaltigung nicht sofort mit höchster Priorität und allen Ressourcen bearbeitet wird!“
Als die MOPO Jan Reinecke vom Bund Deutscher Kriminalbeamter mit der Aussage des LKA konfrontiert, reagiert dieser fassungslos – und wütend: „Diese Aussage wäre ein Riesenskandal! Welche Art eines Sexualdeliktes ist denn nicht schlimm? Ist es etwa nicht schlimm, wenn ein Mann auf einem Spielplatz vor Kindern onaniert?“
Reinecke schildert ein Fallbeispiel: Eine junge Frau kommt aus Schamgefühl erst nach ein paar Wochen zur Polizei. Sie sagt aus, dass sie vergewaltigt wurde. Das Problem: Nach dieser Zeit gibt es keine Spuren wie Verletzungen oder Sperma mehr. Es gibt nur noch ihre Aussage. Anzeigen wie diese gehen ebenfalls beim LKA 42 ein. Ist so ein Fall etwa nun ein „geringeres Delikt“, weil die Tat bereits eine gewisse Zeit zurückliegt und keine Spuren mehr gesichert werden können?
Kriminalbeamter Reinecke: „Was ist bei Sexualdelikten ’nicht so schlimm‘?“
„Wieso werden diese Art von Fällen denn überhaupt im Fachkommissariat für Sexualdelikte bearbeitet, wenn sie nicht so schlimm sind?“, fragt Reinecke rhetorisch. Er macht deutlich, dass es keineswegs ein Vorwurf an die Kollegen im LKA 42 sei. Diese machten eine großartige Arbeit. Er spreche für die Kolleginnen und Kollegen, die mit den Fällen aufgrund der Fülle und des Personalmangels nicht hinterherkommen und über Belastung klagen.
Die stark steigende Quote von Teilzeitbeschäftigten und andere Personalvakanzen seien ein Problem, dem die Polizeiführung und Behördenleitung nicht entschieden genug entgegentrete, so Reinecke. „Zum Leid der Opfer von Straftaten und der Beschäftigten der Kriminalpolizei.“
Was unternimmt das LKA gegen den Personalmangel? Laut Holger Vehren werden die Vorfälle, die zeitnah nicht abgearbeitet werden können, ganz oder teilweise an andere Dienststellen abgegeben. Zusätzlich sollen ab Anfang April drei weitere Mitarbeiter das Team des LKA 42 unterstützen.
LKA 42 gibt Fälle an andere Dienststellen ab
Doch so einfach ist es nicht. Jan Reinecke sieht in der Weitergabe der Fälle ein Problem: „Beamtinnen und Beamte aus anderen Abteilungen sollten in diesem sensiblen Bereich nicht einspringen dürfen. Der Umgang insbesondere mit höchst traumatisierten Opfern sexueller Gewalt erfordert nicht nur ein großes Maß an professioneller Aus- und Fortbildung, sondern auch an Erfahrung und Fingerspitzengefühl.“ Aus diesem Grund sei es für den Bund Deutscher Kriminalbeamter auch nicht akzeptabel, wenn Berufseinsteiger immer wieder in diesem Bereich eingesetzt würden, so Reinecke.
Silke Meier, Psychotherapeutin bei der Opferhilfe Hamburg, hört von Betroffenen immer wieder von den langen Bearbeitungszeiten. „Aus psychotraumatologischer Sicht ist die zeitliche Verzögerung problematisch“, erklärt sie. Eine Vergewaltigung anzuzeigen sei für viele Opfer eine schwere Entscheidung und fordere viel Kraft.
Opferhilfe Hamburg: Verzögerungen bei Ermittlungen sehr belastend
Meier: „Nach einer gelungenen Verarbeitung einer traumatischen Erfahrung kommt es zu einer Einordnung des Geschehens als ‚Vergangenes‘. Durch die Befragung und Notwendigkeit detaillierter Schilderung werden das Erlebte und die damit verbundenen belastenden Gefühle wie Hilflosigkeit, Scham oder Schuld reaktiviert.“
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Wie Reinecke sieht auch Meier ein großes Problem darin, dass das LKA die Fälle an andere Abteilungen delegiert. Für die Befragung von traumatisierten Menschen brauche man Hintergrundwissen und Traumasensibilität. Man müsse die Besonderheiten des Trauma-Gedächtnisses kennen: Wer traumatisiert ist, könne ein Erlebnis meist nicht chronologisch schildern. Denn das Erlebte werde fragmentiert und ungeordnet abgespeichert.
Wenn Betroffene dann die Erfahrung machten, dass die Ermittlungen nicht in Gang kommen und lange nichts passiert, könne das sehr belastend sein: „Die Betroffenen zweifeln an ihrer Einschätzung, denken, man glaube ihnen nicht oder nehme sie nicht ernst“, fasst Meier zusammen.