Seniorenheu und Fiebermessen: Wie lebt es sich in einem Altenheim für Schafe?
Eigentlich war sie aufs Land gezogen, um Bücher zu schreiben, aber dann stand da diese Schafherde auf der Weide vor ihrem Fenster – und die Publizistin, Philosophin und Tierethikerin Hilal Sezgin (52) hatte ihre Lebensaufgabe gefunden. Das ist nun 16 Jahre her und aus der munteren Herde ist ein umhegtes Grüppchen von 18 hochbetagten Schafe geworden. Über die lustigen, traurigen und berührenden Geschehnisse in ihrem „Schafsaltersheim“ hat die Autorin nun ein höchst unterhaltsames und kluges Buch geschrieben. Die MOPO sprach mit Hilal Sezgin über die Aufstehzeit von Schafen, über Fiebermessen und Seniorenheu – und warum manch einstiges Flaschenlamm sie heute mit dem Po nicht mehr anguckt.
Eigentlich war sie aufs Land gezogen, um Bücher zu schreiben, aber dann stand da diese Schafherde auf der Weide vor ihrem Fenster – und die Publizistin, Philosophin und Tierethikerin Hilal Sezgin (52) hatte ihre Lebensaufgabe gefunden. Das ist nun 16 Jahre her, und aus der munteren Herde ist ein umhegtes Grüppchen von 18 hochbetagten Schafe geworden. Über die lustigen, traurigen und berührenden Geschehnisse in ihrem „Schafsaltersheim“ hat die Autorin nun ein höchst unterhaltsames und kluges Buch geschrieben. Die MOPO sprach mit Hilal Sezgin über die Aufstehzeit von Schafen, über Fiebermessen und Seniorenheu – und warum manch einstiges Flaschenlamm sie heute mit dem Po nicht mehr anguckt.
Frau Sezgin, was haben Sie heute Morgen schon gemacht?
Hilal Sezgin: Als erstes versorge ich morgens die Kater, die mit im Haus leben und gucke schon mal über die Stallkamera, ob es irgendwelche Krisenfälle gibt, ob eine verdreht liegt oder komisch da steht. Wenn alle Schafe friedlich wiederkäuen, ist alles in Ordnung.
Der Schafstall ist kameraüberwacht?
Ja, ich gehe zwar morgens in den Stall, um die Stallkatze zu füttern, aber wenn ich zu den Schafen gehen würde, würden die alle aufstehen. Ich lasse sie aber noch ein bisschen wiederkäuen.
Wann ist denn so die normale Aufstehzeit für Schafe?
Meine Herde ist ja inzwischen in drei Gruppen geteilt: Die jungen Schafe sollen ab acht Uhr raus und sich ein bisschen was auf der Weide suchen, die müssen eher abnehmen. Dann gibt es das mittlere Abteil im Stall, da sind die alten, die kriegen das „Seniorenheu“, das ist fein zermahlenes Heupulver, weil die oft Probleme mit den Zähnen haben. Alte Leute bauen ja sehr ab, also lasse ich sie noch was von dem hochwertigen Heupulver fressen, bevor ich sie rauslasse. Und im hintersten Abteil ist eine blinde und schwerhörige alte Dame, Alma, die mit den anderen nicht klarkommt, und die rückt dann tagsüber nach.
Hören Schafe eigentlich auf ihre Namen?
Unterschiedlich. Manche sind total verschmust, lernen aber anscheinend nie ihre Namen. Und andere, wie Christopher, die lassen sich nicht anfassen, gucken aber sofort, wenn ich ihren Namen rufe. Es gibt auch Lämmer, die habe ich mit der Flasche aufgezogen und sobald sie entwöhnt waren, haben die mich mit dem Po nicht mehr angeguckt, während andere Flaschenlämmer mir wie Hunde folgen. Das sind Individuen, die Ziege etwa, die war zu allen garstig, außer zum Joylein, den hat sie geliebt.

Dass Tierärzte uralte Hunde behandeln, ist klar, aber wissen die auch, wie man alten Schafen helfen kann?
Mein sehr erfahrener Tierarzt sagte neulich zu mir: „Hilal, ich wusste gar nicht, wie alt Schafe werden können.“ Auch wenn ich Blutproben ins Labor schicke, höre ich immer wieder: „So was haben wir ja noch nie gesehen.“ Man sagt, Schafe können so 15 Jahre alt werden. Ich habe aber mehrere, die älter sind, Alma ist schon 21 Jahre.
Was kriegen alte Schafe denn so für Beschwerden?
Arthrose ist ein großes Thema. Wenn ich sie rauslasse, gucke ich: Wer von den kleinen Leuten ist heute besonders schwer aufgestanden? Und dann gebe ich dem eine Schmerzspritze.
Wie macht man das denn? Klemmt man sich das Schaf untern Arm?
Am Anfang war das ein Riesenaufriss, da brauchte ich Helfer, und wir haben zu dritt ein Schaf in einen kleinen Pferch getrieben und festgehalten. Aber jetzt, nach 16 Jahren, haben die Schafe so viel Vertrauen zu mir, ich kann das bei den meisten jetzt alleine. Die sind so kooperativ, ich kann bei ihnen sogar alleine Fiebermessen und Augentropfen verabreichen. Sie finden das natürlich nicht toll, aber sie machen mit. Das finde ich sehr berührend.
Was haben die noch so für Maleschen?
Eine anderes Thema ist Grauer Star. Zwei Schafe habe ich operieren lassen und das wurde offenbar weltweit noch nie gemacht bei Schafen. Es ist auch nicht für jedes Tier sinnvoll. Es gibt blinde Schafe, die orientieren sich an ihren Kumpels und kommen gut klar. Aber diese beiden hatte keine Kumpel und haben beide sehr von der OP profitiert. Das Julchen zum Beispiel, die wurde durch ihre Blindheit panisch und jetzt ist sie wieder ganz die Alte. Aber ich muss da schon sehr abwägen, denn es ist ja auch ein großer Stress für ein Schaf, wenn es wochenlang in der Klinik steht.

Wie sind Sie überhaupt zu dieser Schafherde gekommen?
Ich komme ja aus Frankfurt, habe viele Jahre bei der „Frankfurter Rundschau“ gearbeitet, hatte schon ein paar Bücher geschrieben und wollte aufs Land ziehen, um mehr Bücher zu schreiben. Ich hatte die romantische Vorstellung, dass ich so als Schriftstellerin im Grünen lebe. Da kam dieses Angebot in dem Dorf bei Lüneburg und ich guckte tatsächlich ins Grüne – aber auf diesem Grün standen Schafe. Die kriegten Lämmer und Klauenkrankheiten und gehörten irgendwie zu dem Haus dazu und jemand musste sie versorgen. Und das war ich.
Als Stadtpflanze?
Ja, als ich nach zwei Wochen zum ersten Mal den Tierarzt rief und der sagte, die Schafe müssen Spritzen kriegen, dachte ich ungelogen, da kommt dann so eine Art Gemeindeschwester für Schafe. Aber nee. Das sollte ich machen! Ich dachte, ich fall um. Ich konnte kein Blut sehen, keine Spritzen sehen, aber man wächst tatsächlich an seinen Aufgaben. Früher hatte ich bis zu 50 Schafe, aber die brauchten lange nicht so viel Pflege wie jetzt meine 18 Senioren.
Wie gucken denn die anderen Dorfbewohner auf diese steinalte Schafherde?
Da ist eine sehr große Toleranz. Es ändert sich ja auch auf den Dörfern viel. Hier sind bei den jungen Leuten auch Veganerinnen, da habe ich mir nie etwas anhören müssen. Im Gegenteil: Mir wurde immer geholfen. Ich bin hier ja auch weit und breit die einzige Muslimin, auch da habe ich nie einen blöden Spruch gehört. Da habe ich in der Stadt mehr Diskriminierung erfahren.
Wie gehen Sie mit dem moralischen Dilemma um, dass für das Futter Ihrer Kater ja auch Tiere sterben mussten?
Katzenfutter ist echt ein Problem. Da wurden Tiere getötet, damit unserer Lieblinge leben können. Aber nicht alle Katzen akzeptieren das vegane Katzenfutter, das es bisher gibt. Das ist ein Widerspruch, den ich als Tierethikerin aushalten muss. Übrigens nicht der einzige: Meine Schafweide gehörte früher den Wildschweinen, aber ich als Mensch habe beschlossen, dass die nun meinen Schafen gehört und habe sie eingezäunt. Damit halte ich die Wildschweine von einer Futterfläche fern, die sie fest eingeplant haben, das ist auch nicht toll.

Wie stehen Sie als Tierethikerin zum Wolf? Der will ja auch leben, und gerne von Ihren Schafen.
Ich habe kein Problem damit, meine Schafe den Wölfen vorzuenthalten. Die sind wie meine Familienmitglieder, die beschütze ich und bringe sie abends in den Stall. Seit die ersten Wölfe in unserer Region aufgetaucht sind, muss ich abends immer zuhause sein. Aber das ist okay, mich ärgert eher, dass der Wolf immer als die größte Gefahr für Schafe dargestellt wird. Die größte Gefahr für Schafe ist der Mensch. Menschen essen fast alle Schafe, die bei ihnen leben. Menschen lassen Schafe ohne Schutz gegen Sonne und Regen auf Deichen stehen und alle denken, die haben ein tolles Leben. Aber nein, Deichschafe haben ein hartes Leben.
Ihre Liebe bezieht sich ja aber nicht nur auf Schafe.
Nein, ich habe auch schon mal 30 Weinbergschnecken ins Haus geholt und in Terrarien gesetzt, weil ein Nachbar ihre Brennnesseln roden wollte. Es sind empfindungsfähige Wesen, die leben wollen. Und wenn ich eine Schnecke mit einem verletzten Haus finde, dann versuche ich schon, die gesund zu pflegen. Wenn man da zuguckt, wie sie Kalkstaub über ihre Sohle und ihren kleinen Mund einheimst, das ist schon interessant.

In dem Buch nennen Sie Ihre Schafe die „kleinen Leute“, wie kommt das?
Früher habe ich sie „Lieblinge“ genannt, aber das sagt man das ja eher zu Einzelnen, nicht zu einer großen Gruppe. Dann habe ich sie Goldstücke genannt, aber das war auch irgendwie komisch. Und dann dachte ich: „kleine Leute“, da kann doch keiner was dagegen haben.
Letzte Frage: Wie geht Ihr Tag jetzt weiter?
Jetzt lasse ich die alten Schafe raus, gebe dem Julchen Augentropfen und dann koche ich was.