Der Mann vorm Penny: „Wenn du mich hier weghaben willst, dann töte mich“
Niemand kennt den Kiez besser als er: Thomas S. (43) sitzt seit zehn Jahren vor dem Penny-Markt auf der Reeperbahn. Messerstechereien, Schießereien, Totschlag – der Mann mit Glatze, Bart und Kilt hat alles gesehen, war zigfach Zeuge vor Gericht, wurde selbst mehrfach brutalst verprügelt. Doch er bleibt. „Nirgendwo erlebe ich so einen Zusammenhalt wie hier“, sagt der Mann im Schneidersitz, den hier jeder kennt und grüßt. Die MOPO hat sich einen Tag zu ihm gesetzt, um von ihm das Geheimnis St. Paulis zu erfahren.
- Deutsch (Deutschland)
MOPO+ Abo
für 1,00 €Jetzt sichern!Die ersten 4 Wochen für nur 1 € testen!Unbeschränkter ZugangWeniger Werbung
Danach nur 7,90 € alle 4 Wochen
Wenn Sie E-Paper Kunde sind, betrifft diese Änderung Sie nicht.
Niemand kennt den Kiez besser als er: Thomas S. (43) sitzt seit zehn Jahren vor dem Penny-Markt auf der Reeperbahn. Messerstechereien, Schießereien, Totschlag – der Mann mit Glatze, Bart und Kilt hat alles gesehen, war zigfach Zeuge vor Gericht, wurde selbst mehrfach brutalst verprügelt. Doch er bleibt. „Nirgendwo erlebe ich so einen Zusammenhalt wie hier“, sagt der Mann im Schneidersitz, den hier jeder kennt und grüßt. Die MOPO hat sich einen Tag zu ihm gesetzt, um von ihm das Geheimnis St. Paulis zu erfahren.
Der Gestank warmen Mülls paart sich in der Morgenluft mit dem Geruch von Urin und Erbrochenem. Der Asphalt vor dem Pennymarkt an der Reeperbahn ist klebrig. Kein Ort, der zum Sitzen einlädt. Doch Thomas S., genannt Tom, stört das nicht. Wenn es ihm zu schmutzig ist, holt er sich von den Mitarbeitern des Supermarkts einen Besen und fegt das Gröbste zusammen. Dann lässt er sich nieder, öffnet das erste Bier und dreht die Musik auf seiner mobilen Box auf. Für die Penny-Mitarbeiter und Stammkunden gehört er quasi zum Inventar.
Hamburg: Tom schätzt die Gemeinschaft auf dem Kiez
Seit zehn Jahren sitzt er hier. Jeden Tag ab sieben oder acht Uhr morgens. Es ist seine ganz persönliche Tradition, sein Alltag. Tom, gepflegter Bart und geradezu penibel saubere Fingernägel, wohnt in einem Zimmer auf dem Hamburger Berg, Gemeinschaftstoilette auf dem Flur: zwei Klos und eine Dusche für zwölf Parteien. „Die Leute geben sich die Türklinke in die Hand. Wenn du Termine hast, musst du drei Stunden vorher aufstehen, damit du rechtzeitig duschen kannst.“ Sein Traum: Eine eigene Wohnung auf St. Pauli.
Wie geht es Hamburgs bekanntestem Stadtteil, den Menschen die dort Leben und Arbeiten, wirklich? Was brauchen sie, was wünschen sie sich? Warum sind die Kiez-Kneipen in Gefahr und was macht den „Goldenen Handschuh“ so besonders? Dieser Text ist Teil unserer Sonderausgabe vom Kiez.
„Pauli ist ein Dorf für sich. Selbst wenn man sich fremd ist, sobald einer ein Problem hat, arbeitet man zusammen,“ sagt Tom und nimmt einen Schluck von seinem mittlerweile vierten Bier. Jede halbe Stunde eine neue Dose – das ist der Rhythmus, der seinen Tag bestimmt.
Der Soundtrack seiner Lebensbühne: heulende Sirenen, das warnende Piepen von rangierenden Lastern, vorbei rauschende Autos. Und Tom ist der Showmaster: Alle drei Minuten grüßt er jemanden, macht Sprüche, schnackt mit Passanten. Er kennt sie alle: den älteren, stillen Mann mit St.Pauli-Mütze und Gehwagen, die verloren wirkende Frau, die Bonbons dabei hat und großzügig teilt, das Paar, das immer zusammen zum Einkaufen geht, die drei Männer, die zusammen an der Straße stehen und trinken, die Taxifahrer und Zulieferer, die Gewinner und Verlierer, die Glücklichen und die Traurigen.
St. Pauli: Aus Geldnot setzte er sich vor den Pennymarkt
Mit 13 Jahren war er das erste Mal auf dem Kiez. Für den gebürtigen Hessen ein Spektakel: die blinkende Leuchtreklame, die abgedrehten Menschen, die Partys, die Huren. Mit 18 Jahren zog er nach Hamburg. Später machte er in Altona eine Ausbildung zum Koch, bei Koala e.V., einem gemeinnützigen Verein.
„Kochen ist mein Leben“, sagt Tom, streift seinen Ärmel hoch und zeigt ein Tattoo. Es ist ein EKG mit einer kleinen Kochmütze auf der Herzstromkurve. Nach seiner Ausbildung arbeitete er in diversen Restaurants, fünf Jahre war er Küchenchef in einem Lokal in der Innenstadt. Doch der Laden wurde verkauft, Tom verlor seinen Halt, bekam finanzielle Probleme und saß irgendwann vor dem Pennymarkt, vor sich eine Dose in der Hoffnung auf ein paar Euro.
Mittlerweile will er nicht mehr weg, egal, ob er arbeitslos ist, dann sitzt er hier jeden Tag, oder mal wieder einen Job hat, dann kommt er morgens, abends und an freien Tagen. Denn: Hier ist er eine Autorität.
Körperverletzung: Mehrmals war er als Zeuge vor Gericht
Das Dorf funktioniert. „Ich schnorre nicht aktiv“, erzählt er. Das sei nicht nötig. „Die Leute bringen mir Wasser mit, Eistee, Bier. Aber auch Suppengemüse oder Nudeln. Sie fragen, was ich brauche – ich überlege, was ich essen oder kochen will.“ Wenn er kocht, teilt er sein Essen wiederum oft mit den Straßen- und Eckenstehern.
Der 1,90-Meter-Mann mit der Vorliebe für schottische Kilts („sehr praktisch zum pinkeln“) und den hochgeschnürten Schuhen kennt alle Ladeneigentümer und Kiez-Polizisten. Man versteht sich. Als ein Typ mit einer Schere auf eine Beamtin losgegangen sei, habe er eingegriffen. „Den hab ich auf den Boden gelegt“, sagt Tom und grinst. Einmal habe er sich von einer Polizistin schikaniert gefühlt, sei zur Wache gegangen und habe sich beschwert. Die Beamtin sei am nächsten Tag zu ihm gekommen und habe sich entschuldigt.
Etwa zwanzigmal habe er auf der Wache Aussagen gemacht, vierzehnmal sei er als Zeuge vor Gericht gewesen. Diebstahl, Messerstechereien, Schießereien, Totschlag. Tom hat alles miterlebt. Der härteste Fall ist genau ein Jahr her: Am 18. September wurde ein Mann direkt vor dem Pennymarkt niedergeschlagen und schlug unglücklich auf den Asphalt auf. „Als der Typ hier lag mit seinem offenen Schädel, das war nicht schön anzusehen“, sagt Tom auf die für ihn typisch abgeklärte Art. Er holte eine Zewa-Rolle „für das ganze Blut“ und versuchte, dem sterbenden Opfer zu helfen.
Gewaltexzess: Tom wurde bereits mehrfach angegriffen
Gewaltexzesse kennt er: „Mein Schädel wurde hier schon sechs, sieben Mal kaputt geprügelt. Einer saß auf mir drauf und hat meinen Kopf immer wieder auf den Asphalt geknallt – und nebenbei meinen Daumen halb durchgebissen. Der Typ hatte HIV.“
Ein anderes Mal griffen ihn fünf Leute auf dem Hamburger Berg an. „Zweimal haben sie mich zusammengetreten, innerhalb von einer halben Stunde. Am Schluss war ich bewusstlos.“ Tom spricht ruhig, als wäre es einem Fremden passiert. Seine dunkle Stimme lässt keine Angst oder Wut erkennen. „Drei Schläge brauchte eine Frau, bis die Bierflasche kaputt war, mein Kopf kaputt war und ihre Hand kaputt war. Egal, am nächsten Tag war ich wieder hier.“ Tom kramt sein Handy raus und zeigt Bilder von den üblen Verletzungen.
Das könnte Sie auch interessieren: Sex am Regal, Nackte an der Kasse: Sie leitet Deutschlands krassesten Discounter
Er denkt nicht daran, den Platz deshalb zu räumen. „Warum soll ich mich niedermachen lassen? Wenn du mich hier weghaben willst, dann töte mich. Ansonsten bleibe ich.“