Rebellion mit der Sprühdose: Als in Hamburg die Graffiti-Szene entstand
Der Winter 1983 war grau und trist in Hamburg. Zwar lag das Kriegsende schon fast 40 Jahre zurück. Dennoch waren die Spuren der Bombenangriffe noch überall zu spüren. Fast in jedem Stadtteil gab es Brachflächen, auf denen tagsüber Kinder spielten. Jugendliche trafen sich vor den trostlosen Mauerresten ehemaliger Wohnhäuser. Dann geschah etwas, das bei Behörden, Hausbesitzern und Passanten zunächst für Empörung sorgte – und das Stadtbild für immer verändern sollte.
Jede Rebellion hat einen Auslöser. Es ist ein Funke, der ein Feuer entzündet, das sich schnell überall ausbreitet. Für die von den sogenannten „bleiernen“ 70er Jahren gelangweilten Jugendlichen in Hamburg war dieser Funke ein Film.
Ein Film aus den USA löste den Graffiti-Boom in Hamburg aus
- Deutsch (Deutschland)
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Der Winter 1983 war grau und trist in Hamburg. Zwar lag das Kriegsende schon fast 40 Jahre zurück. Dennoch waren die Spuren der Bombenangriffe noch überall zu spüren. Fast in jedem Stadtteil gab es Brachflächen, auf denen tagsüber Kinder spielten. Jugendliche trafen sich vor den trostlosen Mauerresten ehemaliger Wohnhäuser. Dann geschah etwas, das bei Behörden, Hausbesitzern und Passanten zunächst für Empörung sorgte – und das Stadtbild für immer verändern sollte.
Jede Rebellion hat einen Auslöser. Es ist ein Funke, der ein Feuer entzündet, das sich schnell überall ausbreitet. Für die von den sogenannten „bleiernen“ 70er Jahren gelangweilten Jugendlichen in Hamburg war dieser Funke ein Film.
Ein Film aus den USA löste den Graffiti-Boom in Hamburg aus
Am 4. November 1983 kam „Wild Style“ in die deutschen Kinos. Der Film des US-Regisseurs Charlie Ahern erzählt die Geschichte des New Yorker Graffiti-Künstlers Zoro – und sorgt in der Hansestadt für die Entstehung einer neuen Untergrundbewegung, deren Waffenarsenal aus Sprühdosen bestand und deren Kampf allein der Tristesse galt.
„Ich habe ,Wild Style‘ mit meinem Vater im Kino geschaut. In der Nacht noch bin ich los gegangen, und sprühte mein erstes Piece”, erzählte einmal ein Junge aus dem nicht gerade als Szene-Stadtteil bekannten Bramfeld. Erich Siemens war 15 Jahre alt, als er zum ersten Mal zur Dose griff. Später wurde er einer der bekanntesten Sprayer der Stadt.
Autolack-Sprühdosen aus dem Keller der Eltern dienten den ersten Graffiti-Writern als Werkzeug
Erich und die etwa 20 anderen Jugendlichen, die die erste Graffiti-Generation in Hamburg ausmachten, zogen mit Autolack-Sprühdosen aus dem elterlichen Keller los, um die Inspirationen aus dem Film an die Wände der Stadt zu setzen. Plötzlich stand da überall „Wild Style“ in krakeligen Buchstaben auf den Mauern zwischen Bahrenfeld und Ottensen, „Funk Music“ oder andere Begriffe, mit denen man seine Identifikation mit der amerikanischen Hip-Hop-Welt plakativ zum Ausdruck bringen wollte. Denn Hip-Hop und Sprühen – das gehörte eng zusammen.
Je voller die Wände wurden, je künstlerischer die Bilder, desto mehr juckte das Abenteuer. Bald waren U-Bahn-Schächte dran. Bald die Waggons selbst. Und um dem Ganzen einen noch deutlicheren Stempel aufzusetzen und vielleicht auch, um sich ein wenig wichtig zu machen, begannen die Sprayer ihre eigenen Namen in knallbuten Lettern auf die Stadtflächen zu verteilen.
Natürlich nicht „Erich“ – viel zu piefig. Siemens nannte sich ab sofort „Eric“. Und auch die Ralfs, Christians, Jans und Svens legten sich Synonyme wie „Ironbar“, „Juice“, „Husky“ oder „Don“ zu. Hauptsache Englisch. Hauptsache cool. Wichtig: Die Polizei ahnte nicht, wer sich hinter welchem Namen versteckte – untereinander wusste man aber Bescheid.
Katastrophe 1988: S-Bahn-Surfer kommt ums Leben
Doch schon bald reichte auch das nicht mehr für den Nervenkitzel. Um den „Thrill“ zu steigern, wurden nicht mehr stehende Waggons verziert – sondern fahrende! Zeitungen wie die MOPO waren voll von Artikeln über den gefährlichen Sport des „S-Bahn-Surfens“. Und es dauerte nicht lange bis zur ersten Katastrophe.
Am Ostersonntag 1988 stürzte Ingo T. alias „Jasic“, ein 15-jährige Hauptschüler, bei Tempo 100 von einer S-Bahn und brach sich das Genick. Es war ein riesiger Schock – für die Szene, aber auch für die Bahn und die ganze Stadt. Als Reaktion darauf wurde die „Soko Graffiti“ der Bahnpolizei gegründet. Sie begann die Subkultur mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Wer geschnappt wurde, musste mit einer Hausdurchsuchung rechnen, mit einem Gerichtsverfahren wegen Sachbeschädigung und vor allem mit viel Stress seitens der eigenen Eltern. „Ich wurde auch erwischt. So wie praktisch alle anderen“, erinnert sich Mirko Reisser (51) alias „DAIM“, der zur zweiten Grafitti-Generation gehört und erst 1989 dazu stieß. „Die haben uns aufgelauert. An einer Bahnbrücke.“
Mit dem Start ins Berufsleben war es mit dem Sprayen bei vielen vorbei
Zu 3000 D-Mark Strafe wurden Reisser und seine beiden Freunde verdonnert. „Zu Hause war schnell klar: Das musste ich selbst bezahlen“, erzählt Reisser. Mithilfe von Gelegenheitsjobs kratzte er das Geld mühsam zusammen.
Laut Reisser waren die Maßnahmen der Anfang vom Ende der ersten Hamburger Sprayer-Subkultur. Nicht nur wegen der sanktionierenden Wirkung der Strafen. Sondern auch, weil viele der Anfang der 70er Jahre geborenen Sprayer inzwischen die Volljährigkeit erreichten und ins Berufsleben oder Studium starteten.
Nur Leute wie „Eric“ machten weiter. Seine Schriftzüge wurden zunehmend politischer. Mit Botschaften wie „Wir Bürger brauchen bezahlbare Wohnungen“ oder „Scheiß Politiker, bestechliche“ wurde er eine wichtige Verbindung zur Hafenstraßen-Szene, wo die Kneipe „Ahoi“ zum Treffpunkt der zweiten Sprayer-Generation wurde.
Ab den 90er Jahren wurde Graffiti-Kunst immer mehr kommerzialisiert
Diese Generation, zu der auch berühmte Hamburger Hip-Hop-Bands wie die „Beginner“ mit Sänger Jan Delay gehörten, bekam eine andere Art von Aufmerksamkeit. Statt Kriminalisierung erlebten die „Schmierereien“ plötzlich eine Aufwertung. Zeitungen berichteten über die Kunstwerke, es gab Graffiti-Wettbewerbe und eine Ausstellung im Altonaer Museum. In den USA entwickelten Künstler wie Keith Haring aus Graffiti-Motiven einen eigenen, teuer verkauften Stil. Gleichzeitig machte der aus dem Hip-Hop entstandene Gangsta-Rap Furore und machte die Szene trotz der subversiven Texte endgültig salonfähig.
Erstaunlich: Die „Soko Graffiti“ in Hamburg, die ja über die besten Kontakte in die Sprayer-Szene verfügte, begann, ganz offiziell Aufträge zu vermitteln! „Vieles waren Schmierereien (…). Aber vieles hat mich auch begeistert“, gibt Bodo Claußen, Leiter der Sonderkommission heute zu. Es sei ihm ein Anliegen gewesen, die Graffiti-Szene in legale Bahnen zu lenken.
Das Museum für Hamburgische Geschichte am Holstenwall zeigt derzeit die Sonderausstellung „Eine Stadt wird bunt“ über die Entstehung der Graffiti-Kultur in Hamburg. Sie endet mit dem Jahr 1999. Aus gutem Grund: „Danach war alles nur noch Mainstream“, sagt Mirko Reisser, der die Ausstellung zusammen mit drei weiteren Sprayern der ersten Stunde kuratiert hat.
Ausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte würdigt Sprayer-Szene der Hansestadt
Auch Oliver Nebel, Frank Petering und Andreas Timm entstammen der Hamburger Graffiti-Szene und sind wie „Daim“ noch heute als Writer aktiv. Neben der Ausstellung haben die vier einen umfangreichen Bildband (Preis: 69,90 Euro) herausgegeben, der den gleichen Titel wie die Ausstellung trägt und mit dem Buchpreis „HamburgLesen“ der Staats– und Universitätsbibliothek ausgezeichnet wurde.
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Darin ist auch ein Kapitel dem Sprayer Walter Josef Fischer, besser bekannt als „Oz“, gewidmet, obwohl der aus Heidelberg stammende „Großvater der Sprüher-Szene“ streng genommen nie Teil der Hamburger Subkultur war. „Oz“ wurde am 25. September 2014 auf den Gleisen zwischen Hauptbahnhof und Berliner Tor von einer S-Bahn erfasst und getötet.
Ein ähnliches Ende nahm auch „Eric“, dessen Inspirationen aus dem „Wild Style“-Film zu den ersten Graffiti überhaupt in der Stadt gehörten. Er starb am 8. November 2009 im Gleisbett am Jungfernstieg, nachdem er von einer U-Bahn angefahren worden war. Ob es ein Suizid oder ob Alkohol im Spiel war, konnte nicht geklärt werden. Der Kontakt zur Hafenstraße war längst abgebrochen. Der 41-Jährige lebte zuletzt einsam in einer Hochhauswohnung in Mümmelmannsberg.