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Prozess um KZ Stutthof: Schockerlebnis: Jungen neben dem Weihnachtsbaum erhängt

Im Prozess gegen einen früheren SS-Wachmann (93) im KZ Stutthof, der wegen Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vor dem Hamburger Gericht steht, ist am Freitag eine Erklärung eines norwegischen Überlebenden verlesen worden.

Die Ankunft im Konzentrationslager Stutthof bei Danzig am 13. August 1944 war für den gefangenen Norweger Johan Solberg ein „Schockerlebnis“. Das berichtet der heute 97-Jährige in einer Erklärung, deren Übersetzung die Vorsitzende Richterin im Hamburger Prozess gegen einen ehemaligen SS-Wachmann am Freitag verlas. 

Stutthof-Prozess: KZ-Gefangener sah Erhängte neben Weihnachtsbaum

Er habe gesehen, wie Wagen mit Leichen zum Krematorium geschoben wurden. Ein Mann habe den Toten die Goldzähne herausgezogen. Elf Hinrichtungen habe er mit ansehen müssen, ließ Solberg von seinem Sohn in der Erklärung protokollieren. „Am stärksten beeindruckt hat mich die Hinrichtung von zwei russischen Jungen am vierten Weihnachtstag (28. Dezember).“ Die beiden Jugendlichen seien neben einem Weihnachtsbaum erhängt worden.

Angeklagter in dem Prozess ist ein 93-jähriger Deutscher, der von August 1944 bis April 1945 in Stutthof als Wachmann im Einsatz war. Ihm wird Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen. Er soll „die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt“ haben. Zu den Aufgaben des damals 17- bis 18-Jährigen habe es gehört, die Flucht, Revolte und Befreiung von Gefangenen zu verhindern.

Solberg wollte geheime Aufzeichnungen an die Engländer weiterleiten

Solberg war als Mitglied der norwegischen Widerstandsbewegung im Frühjahr 1944 gefangen genommen worden. Nach Angaben eines Rechtsbeistandes der Familie hatte Solberg geheime Aufzeichnungen mit Zahlen aus einer großen Waffenfabrik weiterleiten wollen. Die Informationen sollten an die Engländer gehen. Mit rund 50 weiteren Gefangenen aus Norwegen war Solberg über die Ostsee in das Lager bei Danzig gebracht worden.

Nach Verlesung der Erklärung beantwortete der Sohn des Zeugen Fragen. Er sagte, dass er die Erklärung in Gegenwart seines Vaters geschrieben habe. Dieser sei krank, aber völlig klar im Kopf. Nach einem Radio-Interview 1995 habe der Vater auf 90 Seiten seine Erinnerungen aufgeschrieben. Auf diesen Aufzeichnungen basiere die Erklärung. Ihm und seiner Schwester habe der Vater von seinen Erlebnissen erst erzählt, als sie erwachsen waren, sagte der 66 Jahre alte Sohn. Der Vater habe jahrzehntelang geschwiegen, weil er seine Kinder schonen wollte und weil er sich an eine Schweigeverpflichtung aus dem Widerstand gegen die deutsche Besatzung gebunden fühlte.

Prozess gegen SS-Wachmann – Gefangener spricht über Gaskammer

Solberg wurde der Erklärung zufolge in Stutthof vergleichsweise gut behandelt. Ihm seien nicht die Haare abgeschnitten und er sei nicht geschlagen worden. Die norwegischen Gefangenen hätten kleine Pakete mit Lebensmitteln empfangen dürfen, die ihnen das Überleben ermöglichten. Am schlimmsten hätten es die Juden im Lager gehabt. Über mehrere Wochen habe er gesehen, wie täglich etwa 100 von ihnen zur Gaskammer gehen mussten. Alle hätten gewusst, wohin es ging, viele hätten geweint. „Ich sah nicht direkt, dass sie in die Gaskammer gingen, aber es kam nie jemand zurück“, erklärte Solberg.

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Am 25. Januar 1945 habe er sich mit rund 1300 Häftlingen aus seinem Block auf einen Todesmarsch begeben müssen, den nur die Hälfte überlebte. Nach der Befreiung habe er mehrere Monate im Krankenhaus gelegen, bis er im August 1945 nach Norwegen zurückkehren konnte. Dort habe er sich entschlossen, keine Rache zu wünschen, berichtete der Sohn. So habe es der Vater geschafft, ein gutes Leben mit seiner Familie zu führen. In der Erklärung betonte Solberg: „Ich hasse das Naziregime, aber ich hasse keine einzelnen Menschen.“

Beim Verlassen des Gerichtssaals gingen der Sohn, der Rechtsbeistand und eine Dolmetscherin auf den Angeklagten zu und gaben ihm die Hand. Anwalt Patrick Lundevall-Unger sagte in der folgenden Verhandlungspause, der 93-Jährige habe „Vielen, vielen Dank!“ gesagt. Weil es dem Angeklagten nach der Pause nach Angaben von Ärzten nicht gut ging, verzichtete das Gericht auf die eigentlich geplante weitere Anhörung des Historikers Stefan Hördler. (dpa/mp)

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