Rocker, Gangster, Dealer: Wer die Macht auf dem Kiez hat
Wer an den Hamburger Kiez denkt, der sieht leuchtende Werbetafeln, Menschenschlangen vor Clubs, Partys und Alkohol. Unweigerlich denkt man aber auch an Gangster, Drogenhandel, Prostitution, Schutzgeld. Vor Kurzem wurde der Bruder eines Mannes, der großen Einfluss in St. Paulis Unterwelt hat, mit einem Messer angegriffen. Die MOPO erklärt, wie sich die Verhältnisse verändert haben – und wer die Macht auf der Reeperbahn hat.
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Wer an den Hamburger Kiez denkt, der sieht leuchtende Werbetafeln, Menschenschlangen vor Clubs, Partys und Alkohol. Unweigerlich denkt man aber auch an Gangster, Drogenhandel, Prostitution, Schutzgeld. Vor Kurzem wurde der Bruder eines Mannes, der großen Einfluss in St. Paulis Unterwelt hat, mit einem Messer angegriffen. Die MOPO erklärt, wie sich die Verhältnisse verändert haben – und wer die Macht auf der Reeperbahn hat.
St. Pauli in den 70er- und 80er-Jahren: Überwiegend deutschstämmige Verbrecher kontrollieren die Geschäfte auf dem Kiez. Es geht um illegales Glücksspiel, das boomt, und allem voran um die äußerst lukrative Prostitution: Es ist die Zeit der „Nutella-Bande“, der „GMBH“. Banden, die Hunderte Frauen im „Eros Center“ oder „Palais d’Amour“ für sich arbeiten lassen. Andere Luden schicken ihre Prostituierten an die Straßenecken der Reeperbahn, oft stehen sie aufgereiht an den Häuserwänden.
Hamburger Kiez: Messer und Pistolen statt Fäuste
Die Namen der Mächtigen damals: Wilfried „Frieda“ Schulz, der erste „Pate von St. Pauli“. Walter „Beatle“ Vogeler. „Karate-Tommy“ Thomas Born. „Der Schöne Klaus“ Barkowsky. Kalle Schwensen. Harry Voerthmann („Der Hundertjährige“). „Wiener Peter“ Nusser oder Reinhard „Ringo“ Klemm.
Später gerieten Konflikte, die vorher meist mit Fäusten geregelt wurden, immer öfter zu brutalen Auseinandersetzungen mit Waffengewalt. Berüchtigt: Auftragskiller Werner „Mucki“ Pinzner, der fünf Menschen und letztlich sich selbst hinrichtete.
Auch in den 90ern und 2000ern war der Kiez für seine Brutalität bekannt. Ausländische Gruppierungen versuchten Fuß zu fassen, alte Strukturen wurden verdrängt. Eine Konstante gab und gibt es allerdings bis heute: die „Hells Angels“.
Einzige Konstante auf St. Pauli: die „Hells Angels“
Sie sind seit Jahrzehnten fest etabliert auf dem Kiez. Zuletzt kam es zwischen 2015 und 2018 zu Konflikten mit der rivalisieren Rocker-Gang „Mongols“: Deren Anführer Erkan U. wollte zusammen mit seiner Bande die Macht an sich reißen.
Messer-Attacken, Schlägereien und Schießereien waren die Folge. Traurige Höhepunkte: Mord-Attentate auf Rocker beider Seiten, darunter 2018 der Anschlag auf „Höllenengel“-Boss Dariush „Dari“ F., auf den gefeuert wurde, als er in seinem Bentley saß.
Und heute? Der Kiez hat sich verändert. Das einst lukrative Rotlicht-Geschäft ist geschrumpft. Die Lust-Abfuhr hat sich ins Internet verschoben, mit Webcam-Girls und Porno-Überangebot. Fast die Hälfte aller Bordelle stehen aktuell leer, an der Herbertstraße ist in den meisten Fenstern das Licht aus. Immobilien dort werden teils sogar schon zum Verkauf angeboten.
Auch im „Pink Palace“, früher als „Eros Laufhaus“ deutschlandweit bekannt, läuft es nicht mehr: Nur wenige Zimmer sind noch vermietet, die Freier bleiben aus. Inhaber ist inzwischen kein Hamburger mehr, sondern ein Unternehmer aus Süddeutschland.
Hamburg-St. Pauli: So entwickelt sich der Kiez
Die wenigen Frauen, die noch immer an den Straßen rund um die Reeperbahn stehen, sollen oft selbstständig arbeiten, ohne Luden. Nur die wenigsten drücken laut Szenekennern noch etwas von ihren Einnahmen an einen Beschützer ab, die meisten hielten Luden für überflüssig. Ein Ex-Zuhälter: „Dann muss man den Gewinn auch nicht teilen.“
Der Großteil der Prostituierten geht der Arbeit heutzutage ohnehin fernab vom Kiez nach: In regulären Wohnungen, versteckt in der Normalität des Alltags, verteilt in der ganzen Stadt. Die letzten Zuhälter von damals, die zehntausende Mark verdienten, bieten heute Kiez-Touren für Touris an. Viele sind pleite.
Hamburger Kiez: Viele Luden von damals pleite
Den einen allmächtigen Drogen-Boss gibt es auch nur noch im Film. Im Rauschgift-Milieu auf St. Pauli gibt es vor allem die Geschäfte auf der Balduintreppe; Gras und Kokain in kleinen Portionen, vertickt von Einzeldealern.
Der Drogenhandel hat sich dank verschlüsselter Messengerdienste verschoben, wird dezentral abgewickelt. Das sorgt für Machtkämpfe rivalisierender Kleingruppen. „Den einen Boss gibt es nicht mehr. Das heißt aber nicht, dass die Brutalität abgenommen hat“, so ein Insider. Im Gegenteil: Blutige Revierkämpfe werden hamburgweit ausgetragen.
„Der Kiez lebt von seiner Legende“, sagt ein anderer Insider. Das große Geld sei aber eher zum Beispiel im illegalen Glücksspiel in Harburg zu holen. Einst verruchte Table-Dance-Bars sind heute in der Hand von normalen Geschäftsleuten. Die, denen man einen Milieu-Bezug nachsagt, geben sich mittlerweile selbst als seriöse Unternehmer: Sefadin „Sefi“ L. zum Beispiel.
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Er gilt auf dem Kiez als Diplomat und Mann mit im großem Einfluss. Einige nennen ihn den „Paten vom Kiez“. Offiziell ist er Investor und Inhaber von Diskotheken, Bars und Restaurants. Inoffiziell gilt er als eine der letzten sogenannten Kiez-Größen.
Zu seinen Verwandten gehört Sadri L., besser bekannt als „Albaner-Toni“. L.s Bruder Albert wurde an Weihnachten mit einem Messer attackiert. In Milieu-Kreisen heißt es, es gehe um Schutzgeld-Streitigkeiten.
Große Banden gibt es dagegen nicht mehr. Die „Hells Angels“ sind noch da, doch selbst die sollen den Fokus auf andere Teile Hamburgs verlegt haben. Trotzdem sind Mitglieder und Supporter der Rockerbande noch auf dem Kiez tätig, viele als Türsteher. Dazu scheint es den zwei „Angels“-Ortgruppen „Hellport“ und „Harbour City“ an Führungskräften fehlen. Ein Mann, der den „Rot-Weißen“ nahesteht: „Sie scheinen auf Ruhe aus zu sein. Wenn nötig, werden sie aber ein Machtwort sprechen.“
Polizei für Ruhe auf dem Kiez verantwortlich
Für die Ruhe ist größtenteils aber die Polizei verantwortlich: Beamte bestreifen beinahe Tag und Nacht jeden Meter der Reeperbahn, ihre große Präsenz hat es den Verbrechern zunehmend schwerer gemacht, ihre Geschäfte abzuwickeln. Offenbar bleibt vielen nur noch der legale Weg. Andere sitzen im Gefängnis oder haben sich ins Ausland abgesetzt.